700 Jahre Kleinscheuern – und es bleibt spannend

Rückblicke und Ausblicke: Archäologie, Tradition, neue Gemeinschaft, Kulturtourismus-Pläne

Reigen der Tanzgruppen auf der Festwiese | Fotos: George Dumitriu

Helga Schuster und ihre Töchter in Kleinscheuerner Tracht

Selten war das Gotteshaus so voll: In Kürze soll die Kirche, deren Besonderheit die Votivfahnen sind, in den touristischen Kreislauf aufgenommen werden.

Pfarrer Dietrich Galter mit Diakon Heinrich Rosinger nach dem Gottesdienst

Gedenkmoment auf dem Gottesacker – im Hintergrund Kirchenburg und Schule

Die Blaskapelle Siebenbürger Musikanten Heidenheim auf dem Friedhof

Buchvorstellung: Martin Rill (rechts) und Răzvan Mateescu

Sächsischer Liederabernd im Gong-Theater in Hermannstadt

Nächtliches Konzert auf der Festwiese mit buntem Repertoire aus Klassikern und Oldies

Auf der weiten Wiese duftet es nach Grill. Die sächsischen Tanzgruppen haben die Bühne verlassen, den gemeinsamen Reigen auf grünem Gras beendet, man sucht Schatten unter dem Zeltdach, einen Sitzplatz, ein kühles Bier, den Blick auf die Bühne gerichtet, die nun rumänische Musiker erklimmen,  Ablöse für die Blaskapelle der Siebenbürger Musikanten Heidenheim. Eine rumänische Frau hält die Hände eines betagten Sachsen in Tracht umklammert: zerdrückte Tränen der Wiedersehensfreude, bewegte, hastige Gesprächsfetzen – wie ist es euch ergangen, wie viele Jahre ist es her? Wie lange mögen sich die ausgewanderten Sachsen und die rumänischen Bewohner Kleinscheuerns aus den Augen verloren haben? Auf dem gemeinsamen begangenen Dorffest „Zilele Comunei Șura Mică“ vom 12. bis 15. August und dem 700-jährigen Jubiläum der ersten urkundlichen Erwähnung von Kleinscheuern treffen sich viele nach langer Zeit wieder.

Es ist das zweite Jubiläumsfest in diesem Jahr, nachdem das historische Ereignis bereits im Mai mit einer Reihe von Veranstaltungen gewürdigt worden war: die Vorstellung der zweisprachige Monografie des Historikers Martin Rill, „Kleinscheuern. Eine Gemeinde in Siebenbürgen“, die Eröffnung der von ebendiesem konzipierten Paneele-Ausstellung über die gemeinsame Dorfgeschichte, die noch das ganze Jahr über auf dem Marktplatz zu sehen ist. Ein Festgottesdienst mit dem Bischof der evangelischen Kirche A. B., Reinhart Guib, der jetzt im August wegen der Einweihung der Kirche in Großau/Cristian leider fehlt, doch grüßen lässt. Das Pflanzen einer Linde in der Dorfmitte. Jetzt, zum Anlass des Gemeindefestes, haben auch die ausgewanderten, teils mit der HOG Kleinscheuern organisiert angereisten Sachsen, die Chance, mit der hiesigen Dorfgemeinschaft zu feiern. 

Von der Linde in der Dorfmitte, in deren Schatten man früher tanzte, handelt auch ein Lied, zu dem auf der Festbühne das Tanzbein geschwungen wurde, so Moderatorin Helga Schuster, die mit gleich drei von ihr koordinierten Tanzgruppen angereist war: den Kindern, den Jugendlichen und den Eltern – und ihren drei musizierendenTöchtern, eine hübscher als die andere in authentischer Kleinscheuerner Tracht. An allen Ecken und Enden blitzen buntgeblümte Bänder, stolze Borten, filigrane Häubchen, adrette weiße Schürzen, schwarz bestickt mit Vorname, Name und Konfirmationsdatum, bei den Jugendlichen oft die der Eltern oder gar Großeltern. Zum Sachsenball später in Hosen, Röcken, T-Shirts, Hauptsache der Saal ist voll, Pärchen oder Mütter mit kleinen Kindern tanzen ausgelassen zu den Klängen der Heidenheimer Nova Band. 

Das Bad in der Menge gab es auch im Festgottesdienst tags darauf: „Die Kirche ist so voll wie früher nur an Weihnachten“, freut sich der Leiter der HOG Kleinscheuern, Martin Benning. Die Sachsen – „sașii“ – sind zurück! Man folgt den prächtigen Trachten, Hüten und Zöpfen, den modern bedruckten Blusen und praktischen Kurzhaarschnitten, und wagt im Kopf ein Experiment in kontrafaktischer Geschichte: Wie wäre es, gewesen, wenn... 

„Wir brauchen diese geistliche Heimat“

Im Gottesdienst ist tatsächlich kaum noch Platz zu ergattern. Ein Blick von hinter der Säule ins Schiff: Von der Empore hängen Gedenkfahnen – goldbestickt auf dunklem Samt - für jung verstorbene Familienmitglieder, in den Weltkriegen gefallen oder verunglückt. Michael Schüller, Martin Hell, Johann Roth... „Diese Votivfahnen“, erklärt später Pfarrer Dietrich Galter, „sind eine Besonderheit hier.“ Sie waren früher auch in anderen Kirchen Tradition, „aber dort wurden sie nicht so ausgestellt.“ 

Galter predigt – zweisprachig – von den großen EU-Projekten zur Restauration der evangelischen Kirchen: der kürzlich erfolgten Wiedereinweihungen in Reps/Rupea, Heltau/Cisnădie, Petersberg/Sânpetru, Roseln/Ruja und Großau/Cristian, dies alles innerhalb weniger Tage; der im letzten Jahr vollendeten Restauration der Kirche von Agnetheln/Agnita – „alles große Projekte mit Schwierigkeiten, wie schafft unsere kleine Kirche das?“ Es sind Menschen, die hinter diesen Projekten stehen und sich bewegen lassen, betont er – und dies wünsche er sich auch für die Zukunft. Denn: „Wir brauchen diese geistliche Heimat“. Und: „Gott ist mit dieser Kirche und den Siebenbürger Sachsen noch nicht zuende!“

Therapie, Tourismus und Kulturgenuss

Vor Kurzem ist die Kirche freigelegt worden, „die war zugewuchert wie im Dornröschenschlaf“, schmunzelt Pfarrer Galter. Nun soll die schmucke Kirchenburg im Zentrum des Ortes in den touristischen Kreislauf eingeführt werden. Der Park davor wurde vom Rathaus neu gestaltet, mit Springbrunnen und der Ausstellung auf Paneelen, die den Bewohnern aller Ethnien ihre gemeinsame Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen ins Bewusstsein rufen soll. Als Beispiel erwähnt Galter einen Bürgermeister Rill, der sich schützend vor die Roma stellte, als die Nationalsozialisten diese verschleppen wollten – und im Gegenzug von diesen beschützt wurde, als die Sachsen später deportiert wurden. Der Friedhof – eine karge Wiese, betonierte Grabplatten, kaum frische Blumen vor den Grabsteinen – soll zu einem gepflegten Park werden, erzählt er. „Mit Bänken und angelegten Wegen für Spaziergänger, wie das in anderen Städten schon gang und gäbe ist.“

Nur noch einmal im Jahr wird in der evangelischen Kirche von Kleinscheuern Gottesdienst gefeiert, so Galter, doch der Anlass macht Mut für die Zukunft: „Wenn das Blaue Kreuz hier seinen Jahrestag feiert, jeden ersten Samstag im Juli“. Das Blaue Kreuz, ein Verein, geleitet von Holger Lux, kümmert sich um suchtkranke Menschen, ob Alkohol, Drogen oder Spielsucht.  Er selbst sei stellvertretender Vorsitzender, Pfarrer Constantin Necula der Vorsitzende, der Initator sei Pfarrer Christian Weiss gewesen, der die Gemeinde nach dem Wegzug von Pfarrer Walter Schullerus übernommen hatte. „Ich bin hier seit 92 wieder zuständiger Pfarrer, da kam mir die Idee, das Blaue Kreuz im Pfarrhaus aufzunehmen.“ Ein gut funktionierendes Projekt mit hoher Erfolgsquote und bewegenden Geschichten, so manchem mittellosen Patienten hat die Kirche den Therapieplatz finanziert, einer sei inzwischen sogar Mitglied der Staff geworden. 

Mit norwegischen Geldern wurde jetzt ein neuer Sitz gebaut, das Pfarrhaus ist wieder frei. „Das wollen wir jetzt für ein gemeinsames Projekt mit dem Rathaus nutzen“, erklärt Galter. Das Rathaus habe auch die alte sächsische Schule und den Gemeindesaal im Bereich von Pfarrhaus, Friedhof und Kirche gekauft und die Verwaltung der letzteren beiden übernommen. Die Kirche soll dann neben ihrer Funktion als Touristenmagnet als Kulturzentrum wieder aufleben.

Therapie, Tourismus und Kulturgenuss in einem Guss: Wo sich Heilung, Erholung und Ästhetik die Hand reichen, kann der liebe Gott gar nicht fern sein...

Gedenken und Gedanken am „Ort der Ewigkeit“

Auf dem Friedhof soll nach dem Gottesdienst ein Gedenkmoment stattfinden. Die Blaskapelle – alle Mitglieder in schmucken weißen Hemden, auf dem Rücken in geschwungenenen Letter blau-rot aufgestickt „Siebenbürger Musikanten Heidenheim“ – erklimmt den Hügel. Früher ging man vor dem Weihnachtsgottesdienst zum Gedenken auf den Friedhof, erzählt Brigitte Rill, die wie ihr Historiker-Gatte Martin Rill aus Kleinscheuern  stammt. Ihr Großvater, Johann Pelger, 1900 geboren, sei aus Abtsdorf/Țapu nach dem Lehrerseminar in Hermannstadt/Sibiu hergekommen, zusammen mit einem Klassenkameraden aus Kleinscheuern. Mit ihren Familien bewohnten sie die beiden Lehrerwohnungen im Schulgebäude. 40 Jahre habe er hier unterrichtet. „Eine Lehrerfamilie“, lächelt sie, auch ihr Vater war in Kleinscheuern Lehrer gewesen und sie selbst hatte hier 15 lange Jahre unterrichtet. Sie bricht ab... zu viele Erinnerungen.

Die Grabsteine: graue Betonplatten, umwuchert von frisch gestutztem Gras. Als die Sachsen fortgingen, wussten sie schon, dass die Gräber irgendwann keiner mehr pflegen können wird. „So sieht man wenigsten noch, wo sie sind“, sagt Brigitte Rill leise. Der Ort für die Ewigkeit sollte erhalten bleiben – nicht wie in Deutschland, wo Gräber ablaufen und alles entfernt wird, auch der Stein, wie bei ihrer Großmutter geschehen: „Von wegen loc de veci! Und ich dachte mir, das kann doch nicht sein, dass von dieser Frau gar nichts übrig beibt...“ So habe sie wenigstens ihren Namen hier in Stein verweigt. Einige Sachsen bringen die Asche ihrer Lieben aus dem Ausland her – eine Handvoll wenigstens. Andere haben sich an die bundesdeutschen Sitten gewöhnt.

Ein älterer Herr kommt freudig auf sie zu. „Georg Rill“, stellt sie ihn vor und präzisiert, „nein, die Rills sind nicht alle verwandt, das ist hier ein häufiger Name“. Georg Rill ist  79 ausgewandert, heute 83 Jahre alt, 20 Jahre lang war er der Organist dieser Kirche. Gelernt hat er in Hermannstadt bei dem berühmten Franz Xaver Dressler. 

Viele der in alle Windrichtungen aus Kleinscheuern ausgewanderten Sachsen sehen sich hier nach langer Zeit wieder. Ein allgegenwärtiges Grüßen und Winken, Umarmen und schnelle Worte wechseln, schon ist der nächste Bekannte in Sicht. Die Trachten bilden einen Kreis um die Grabstätten, die Blaskapelle spielt. Reden, Kameraklicken, das Surren einer Drohne. Die Gegenwart holt uns ein. 

Von den Dakern bis ins Frühmittelalter

Das Handy klingelt in der Tasche: Komm schnell, die Buchvorstellung hat schon begonnen! Über Stock und Stein den Hügel hinuntergehastet, zurück in die Kirche - zurück in die Vergangenheit. Diesmal führt die Reise den Zeitpfeil nach unten, über das Frühmittelalter und die römisch-dakische Zeit hinaus in das vorrömische Reich der Daker und bildet eine Brücke von rund 2000 Jahren, von den Grabungen in Râșloave bis zu den sächsischen Siedlungen, erklärt Martin Rill, der zusammen mit Răzvan Mateescu „O (ne)obișnuită așezare. Cercetările arheologice de la Șura Mică-Râșloave“ (Eine ungewöhnliche Siedlung. Archäologische Forschungen von Kleinscheuern-Râșloave) herausgegeben hat. Das Buch, finanziert vom Rathaus Kleinscheuern und gratis an alle interessierten Bürger der Gemeinde sowie an die an den Ausgrabungen beteiligten Fachleute verteilt, vereint die 1976 bis 1983 gewonnenen Erkenntnisse eines Forscherkollektivs mit den später von Rill wieder angestoßenen Forschungen, die unter Beteiligung des Brukenthal Museums, des Nationalen Museums für die Geschichte Transylvaniens sowie der Abteilungen der Rumänischen Akademie in Klausenburg/Cluj-Napoca und Hermannstadt stattfanden. 

Über 600 Jahre war das heutige Kleinscheuern zuerst von Dakern, dann von Dakern und Römern gemeinsam, kontinuierlich besiedelt, erklärt Rill. Mateescu zitiert Ioan Glodariu, den Koordinator der Ausgrabungen, der vor 20 Jahren in einem Artikel die Weiterführung der Forschungen wie folgt motivierte: „Die Siedlungen (von Kleinscheuern-Râșloave, Anm. Red.) , die seit dem Ende der Jungsteinzeit hier aufeinanderfolgten, bis einschließlich ins 12. Jahrhundert, sind ein Unikat in Rumänien (...) und beweisen im Wesentlichen die Kontinuität dakischer Siedlungen nach der römischen Eroberung, das Zusammenleben der in den Busen der Gemeinschaft eingepflanzten Kolonisten und ihren Verbleib an diesem Ort, auch nach dem aurelianischen Rückzug.“

Das Werk präsentiert Erdhäuser und Keramik aus der Zeit der Coțofeni-Kultur, dakische Wohnungen, Versorgungsgruben, Brennöfen und Tongefäße, Kleiderschließen und -schmuck, Artefakte aus Siedlungen und Gräbern der römisch-dakischen Periode und des Frühmittelalters.  „Die Geschichte der Archäologie von Kleinscheuern-Râșloave ist eines der schönsten Kapitel, das die rumänische Geschichte je geschrieben hat“, schließt Mateescu.

Sächsische Lieder und Open Air Konzert

Der Sonntagabend vereint musikalische Gegensätze: Vor dem fulminanten nächtlichen Open Air Konzert mit dem Orchester der Kronstädter Filharmonie und bekannten rumänischen Stimmen wie Marcel Pavel oder der Sopranistin Ana Cebotari auf der Festwiese in Kleinscheuern geht es zu sächsischen Liedern ins kleine Gong-Theater nach Hermannstadt. „A liedchen hälft ängden“, begleitet von Klavier, Geige, Querflöte oder Gitarre, dachten sich die Gestalterinnen dieser liebevollen Liederreise, Helga Schuster aus Steinheim am Albuch und Organistin Edith Toth aus Mediasch, in die kleine, beschauliche Welt der siebenbürgischen Dörfer und des Alltags. Sie führt durch die Heimatorte sächsischer Komponisten und Schriftsteller, deren Gedichte als Lieder im Volksgedächtnis haften, begleitet von den Fotografien von Martin Rill zu deren Geburtsorten. Von Frida Binder Radler bis zu Georg Meyndt, von Malmkrog/Mălăncrav über Elisabethstadt/Dumbrăveni, Birthälm/Biertan, Mediasch, Reichesdorf/Richiș bis zu Henndorf/Brădeni. Die Lieder malen Bilder von zarter Liebe und erstem Seelenschmerz: der Junge, der ein Mädchen am Brunnen sieht, ihr goldenes Haar spiegelt sich im Wasser, verliebt wirft er eine Rose hinein, doch sie beachtet ihn nicht, und er geht nie wieder an den Brunnen. Von der Nachtigall, deren Tränen die Knospen im Rosenstrauch erblühen lassen, doch wenn sie mit blutigen Flügeln weiterfliegt, verwelkt auch die Rose. Von der Mutter, die ihr Kind in der warmen Stube in den Schlaf singt, während der Vater im kalten Wald Holz fällt; von Astern als Symbol des Scheidens, der fröhlich hupenden Straßenbahn im Jungen Wald, oder dem Brünnchen als fortwährendes Motiv für das Knüpfen romantischer Bande... Zum Schluss ertönt das Siebenbürgenlied vor dem gestickten Haussegen „Siebenbürgen, süße Heimat“, in den Hintergrund projiziert.

Ob ich das als Kitsch oder Kunst empfände, fragt mich danach eine Sächsin... Doch wie kann man sich ein Urteil anmaßen, wenn sich vor den eigenen Augen zerdrückte Tränen mit seligem Lächeln treffen, aufblitzen in einem Gefühlsmoment der Gemeinsamkeit, das auf der Welt seinesgleichen sucht? Das man nur erahnen kann und schätzen und schützen, denn Pfarrer Galter hat ganz bestimmt recht: Der liebe Gott ist noch lange nicht „fertig“ mit diesen Siebenbürger Sachsen...