Am Anfang war ein wilder Eber

Stift Kremsmünster verdankt seine Entstehung einem herzoglichen Jagdunfall

Grabplatte von Gunthers Hochgrab mit dem Eber
Fotos: Mag. Ignazius Schmid

Der Tassilokelch

Bibliothek

Erdglobus 1825, Geschenk an den Abt Joseph Altwirt

Abt Ambros erläutert den Tassilokelch.

Fischkalter Triton und Neptun

Die beiden Tassiloleuchter werden mit dem Tassilokelch in der Liturgie am Stiftertag verwendet.

Salzburger Armenbibel, Leben Christi, 14. Jh.

Deckenfresken im Kaisersaal, Detail

Blick zum Hochaltar der Stiftskirche

Der Bayernherzog Tassilo III. sah sich immer wieder veranlasst, die Ostgrenze seines Reichs vor den eindringenden Slawen zu befestigen. Als er sich im heutigen Lorch an der Enns aufhielt, zog sein Sohn Gunther mit einer Gruppe erfahrener Jäger in die Wälder. Bei einer Quelle namens Gundraich konnte er einen wilden Eber erlegen, aber bevor das Tier verendete, schlug es seine Hauer in Gunthers Unterschenkel. Der Prinz verblutete, bevor ihm seine Jagdgefährten zu Hilfe kommen konnten. Sein Hund lief die etwa 40 Kilometer lange Strecke zu Herzog Tassilo und holte ihn zu seinem toten Sohn. Während der nächtlichen Totenwache kam ein Hirsch mit brennenden Fackeln im Geweih aus dem Wald und ließ sich nicht vertreiben, bis Tassilo die Botschaft erkannte: hier soll Gunther begraben werden und hier soll ein Kloster entstehen. Soweit die Gründungslegende.

Österreichs Stifte haben fast alle eine riesige Ausdehnung – auch das Stift Kremsmünster. Es ist neben Melk eine der größten Klosteranlagen Österreichs. Die Stifter ließen sich schließlich nicht lumpen und machten großzügige Zuwendungen! So wurden im Jahr 777 Kirche und Kloster Kremsmünster gegründet und mit Ländereien reichlich ausgestattet. Anknüpfend an Tassilos Stiftbrief, der nicht mehr in Original und nur mehr in drei Abschriften erhalten ist, bestätigte Kaiser Karl der Große im Jahr 791 die Stiftung mit einer „Diplom“ genannten Urkunde. Spätere Forschungen erbrachten keinen Nachweis, dass Herzog Tassilos Sohn Gunther hieß. Um 900 wurde Kremsmünster durch die Einfälle ungarischer Reiterhorden zerstört, aber hundert Jahre später durch Kaiser Heinrich II. wieder hergestellt. Im Laufe dieser „zweiten Gründung“ holte der Kaiser aus der 740 gegründeten bayrischen Benediktinerabtei Niederaltaich einige Mönche und Abt Sigmar ins Stift Kremsmünster, und mit ihm kam vermutlich der Name Gunther hierher:  der Gaugraf Gunther aus Niederaltaich wurde 1008 Eremit und gründete das Kloster Rinchnach. Hochangesehen starb er 1045 an der Quelle am Gunthersberg – damit wurde vermutlich der Name des Eremiten zum Namen des Prinzen. So wichtig solche Details für die Forschung auch sind, für den Besucher, der heute aus spirituellen oder kulturellen Gründen nach Kremsmünster kommt, ist der genaue Name des Prinzen nicht wesentlich, er ändert nichts an der Bedeutung des Stiftes. Beim Neubau der Kirche im Jahr 1232 entdeckt man die Gebeine Gunthers; heute befindet sich das prächtige Hochgrab im Läuthaus der Kirche. Der steinerne Grabdeckel dafür wurde 1270 angefertigt: Gunther liegt majestätisch aufgebahrt auf der Grabplatte, zu seinen Füßen der erlegte Eber und der treue Hund. Auch viele Jahrhunderte nach der Entstehung dieses Monuments berühren die edlen Gesichtszüge Gunthers durch ihre friedliche Ruhe – die dem Kloster nicht immer beschieden war. Noch von 1941 bis 1945 hoben die Nationalsozialisten das Kloster auf.

Ein geheimnisvoller Kelch

Dem kulturell versierten Besucher des Stiftes Kremsmünster sind mindestens drei wichtige, einzigartige Dinge bekannt: der Tassilokelch, die Sternwarte und die Fischkalter. Seit der Gründung des Stiftes besitzt Kremsmünster den Tassilokelch, der vom Herzog und seiner Frau Liutpirc gestiftet wurde. Ein Chronogramm ergibt die Jahreszahl 781. Der Kelch könnte auch für die Salzburger Bischöfe Rupert und Virgil gefertigt worden sein, wie aus einem Anagramm geschlossen werden kann. Dass der mit 93 Feldern verzierte Stifterbecher als liturgisches Gerät gedacht war, ist ziemlich sicher. Er könnte auch als Trinkmaß für die Mönche verwendet worden sein – vieles ist rätselhaft. Auch P. Altmann, der sich in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus Frankfurt und Mainz fünf Jahre mit dem Tassilokelch beschäftigte, steht vor manchem Rätsel. Die Ausgestaltung, die Überlieferungen und die Gebrauchsspuren lassen verschiedene Schlüsse zu. Sicher ist jedenfalls, dass der Kelch eines der bedeutendsten Kulturgüter Österreichs ist. Sein Materialwert, versilbertes und vergoldetes Kupfer, ist gering, der historische Wert jedoch unschätzbar. Ein massiv goldener oder silberner Becher hätte keinesfalls 1200 Jahre heil überstanden. Die jüngste Episode seiner langen Geschichte erzählt, dass der Kelch zu Beginn des Zweiten Weltkrieges von Landeskonservator Juraschek vor Hitlers Zugriff in den Salzstollen von Lauffen bei Bad Ischl in Sicherheit gebracht wurde. Auf der Schachtel stand „Planskizzen“, und die haben Hitler nicht interessiert. Nur ein einziger Pater wusste Bescheid, und nach Kriegsende brachte P. Petrus den Kelch in einem Rucksack voller Kartoffeln per Fahrrad die rund 80 Kilometer wieder zurück ins Stift.

Kulturelle und wissenschaftliche Tätigkeit des Stiftes

Das Gedeihen eines Klosters hängt zum wesentlichen Teil von der Persönlichkeit des Abts ab, wie er es versteht, im unvermeidlichen Auf und Ab die Chancen der Zeit zu nützen und die politischen und sozialen Stürme zu entschärfen. Seit den Anfängen bestand in Kremsmünster eine Schreibstube, die ab 1300 unter Abt Bernhard Noricus eine hohe Blüte erreichte. Seit der Gründung des Klosters war die Klosterschule ein ebenso wichtiger Teil, 1549 wurde sie als Stiftsgymnasium durch Abt Gregor Lechner für die Allgemeinheit geöffnet. Gegenwärtig besuchen 411 Schüler diese angesehene Bildungsstätte. Die Reformation schlug auch in Kremsmünster zu, und 1566 waren nur mehr drei Mönche im Stift. Durch die katholische Reform begann 1600 wieder neues Leben und unter dem bedeutenden Abt Anton Wolfradt erreichte die barocke Neugestaltung einen neuen Höhepunkt. Abt Anton wurde zudem Bischof von Wien und Finanzminister unter Ferdinand II. In dieser Zeit kamen die Baumeister aus Italien und prägten mit ihren Werken das Stift. Der barocke Fischkalter ist eine extravagante Schöpfung der bekannten Baumeister Carlo Carlone und Jakob Prandtauer: ein Arkadenrundgang um die fünf Fischbecken mit den wasserspeienden, barocken Skulpturen – Samson, David, Neptun, Triton, Tobias und der Apostel Petrus – zu deren Füßen sich Karpfen, Saiblinge und Störe im Wasser tummeln; bis zu ihrer Vollendung in der Klosterküche ... Ein eifriger Bauherr war Abt Erenbert II., unter dem die Stiftskirche, der Kreuzgang, das Kapitelzimmer, die Bibliothek und der Kaisersaal neu entstanden, erweitert oder mit Fresken ausgestattet wurden. Die letzte große Bauphase erlebte das Stift unter Abt Alexander III. Fixlmillner. Das prägendste Bauprojekt dieser Zeit war die Sternwarte, das „erste Hochhaus Europas“. Das 51 Meter hohe Universalmuseum wurde 1758 eingeweiht. Stockwerk für Stockwerk sind die verschiedensten wissenschaftlichen Sammlungen untergebracht, ein geologisches Kabinett, ein mineralogisches, ein zoologisches – in dem man auch bereits ausgestorbene Tiere findet, ein Volkskundestockwerk, und im 6. Stock das ehemalige Observatorium, mit Temperaturaufzeichnungen seit 1767. Von der obersten Terrasse hat man einen großartigen Ausblick auf die vom Stift umbauten 22 Hektar, auf die Kirche, die acht Klosterhöfe, den Meierhof und die Stallungen, die Gärten mit dem Feigenhaus, das wegen der Dachform „Moschee“ genannte Gartenhaus von 1640, die seltenen exotischen Bäume … Nicht umsonst heißt es, „ein Novize braucht ein Jahr, um alles kennenzulernen“. Empfehlenswert ist es, im Kloster mit einem Stiftsplan anzureisen, um sich nicht zu verirren – so nicht gerade Abt Ambros die Zeit aufbringen kann, einem Gast entgegenzugehen, in die Unterkunft zu geleiten und sich zu überzeugen, dass alles wohlgefällig vorbereitet ist. Diesen ersten Eindruck fürsorglicher, benediktinischer Gastlichkeit empfindet der von der Größe des Stifts überwältigte Besucher als besonders wohltuend. Abt Ambros Ebhart (*21. Juli 1952) ist gebürtiger Waldviertler, hat nach dem Besuch des Stiftsgymnasiums in Salzburg Theologie studiert und viele Jahre in der Seelsorge gearbeitet. Es liegt ihm, mit seiner ruhigen Art den Menschen etwas von christlicher Geborgenheit weiterzugeben und das Licht des Glaubens in die Tiefe der Seelen zu lenken. Seine Erfahrung in der Pfarrseelsorge kommt ihm auch bei der Betreuung der 27 inkorporierten Pfarreien, als Hausvater von 44 Mönchen und im verständnisvollen Umgang mit seinen Mitmenschen und mit den zahlreichen Mitarbeitern zugute.

Spirituelle und kulturelle Höhepunkte

Wie in jedem Kloster ist auch in Kremsmünster die Kirche ein zentraler Punkt. Der älteste Teil der Kirche ist der aus dem 10. Jahrhundert stammende Ostturm. Die dem jugendlichen heiligen Märtyrer Agapitus (ca. 274) geweihte Stiftskirche – Agapitus-Reliquien waren 892 eine Schenkung Kaiser Arnulfs von Kärnten – wurde seit dem 17. Jahrhundert in mehreren Phasen umfangreich barockisiert und innen mit strahlend weißem Stuck überzogen, der schon Adalbert Stifter während seiner achtjährigen Studien im Stiftsgymnasium begeisterte. Eine breite Marmortreppe und ein prächtiges Schmiedeeisengitter lenken den Blick direkt auf den Hochalter mit dem größten Altarbild Oberösterreichs, das der Münchner Hofmaler Johann Andreas Wolff 1712 nach 12 Jahren Wartezeit ablieferte. Es zeigt die Verklärung Christi, ein seltenes und faszinierend gestaltetes Hochaltarthema. Die Kirche birgt unzählige Kostbarkeiten höchster Qualität, Fresken an der Kirchendecke, Seitenaltäre, Skulpturen von Engeln und Heiligen, die mächtigen Pfeiler sind mit Brüsseler Gobelins von 1551 ummantelt. In der Schatzkammer hinter der Sommersakristei sind eine große Anzahl kostbarster Ornate aufbewahrt. Die Kirche dient aber den Mönchen vor allem zum Gottesdienst und dem Gebet:  Um 6 Uhr Früh beginnt als erstes das Morgengebet, um 12 Uhr mittags das Chorgebet und als Tagesabschluss um 18 Uhr abends die Vesper, immer mit Hymnus, Psalmen, Lesungen, Gebet und Gesang. Jeden Sonntag wird eine von P. Altmann (studierter Musiker und Regens Chori) musikalisch hervorragend gestaltete Festmesse, die in jedem anspruchsvollen Konzertsaal bestehen könnte, gefeiert – nicht als gesellschaftliche Veranstaltung, sondern als Gottesdienst und zur Erbauung der Gläubigen. Für die Benediktiner, denen schon in der Ordensregel nicht nur ora et labora, sondern auch lege, lesen, aufgetragen ist, gehören tägliche Lesungen – auch bei Tisch im Refektorium – zu ihren wichtigsten Anliegen. So ist der hohe Stellenwert der Bibliothek nicht verwunderlich. Sie ist 65 Meter lang und besitzt 230.000 Bände, die in drei großen Sälen untergebracht sind: der Saal der Griechen, der Lateiner und der Benediktiner. Berühmt neben vielen kostbaren Werken der verschiedensten Wissensgebiete sind einzigartige mittelalterliche Handschriften, z. B. der Codex Millenarius aus dem 8. Jahrhundert oder ein Psalter von 1467. Schätze der bildenden Kunst schließlich sind in der Gemäldegalerie im Kaisersaal und in einer Reihe von Sälen platziert, deren Grundstein Abt Anton Wolfradt legte, in einem Kupferstichkabinett, einem Kabinett mit gotischer Tafelmalerei, in Renaissance-, Barock und Biedermeierräumen. In der Kunst- und Wunderkammer, mit Schnitzereien, Uhren, Musikinstrumenten, befinden sich auch Kuriositäten, wie der Elefantensessel, aus den Knochen des ersten in Österreich verstorbenen Elefanten – gemacht für Kaiser Maximilian II.

Reale Aufgabenbereiche

Neben den spirituellen und kulturellen Aufgaben des Stiftes ruhen auch die realen Aufgaben der Wirtschaftsführung auf den Schultern der Mönche, die damit ihrem labora-Auftrag der Regel in reichlicher Menge nachkommen können. Insgesamt fast 30 einzelne Betriebe der gewerblichen, land- und forstwirtschaftlichen Bereiche sind nachhaltig zu bewirtschaften, denn das Stift ist von allen anderen Körperschaften kirchlicher und staatlicher Natur völlig unabhängig. Die Verantwortung als wichtiger Wirtschaftsfaktor des Landes ist groß. Der Forst spielt wirtschaftlich die wichtigste Rolle, die Landwirtschaft, der Weinbau, die Kellerei und die Gärtnerei folgen. Die verantwortlichen Mönche müssen auch überlegen, welche wirtschaftlichen Standbeine ausgebaut werden sollen und welche nicht. 10.500 Hektar Landwirtschaft, davon 5.500 Hektar Nutzwald und 180 Hektar biologischer Ackerbau gehören betreut, was P. Gotthard mit seinen 13 Mitarbeitern erledigt, dazu das Fischereiwesen, die Immobilienverwaltung und das Bauwesen – was dem Fast-zwei-Meter-Mann seit 35 Jahren bestens zu bewältigen gelingt. Auf dem Gebiet der guten Tropfen im Weinkeller ist P. Siegfried der richtige Mann am richtigen Ort. Als Kellermeister ist er für die lange Tradition des Stifts-Weinbaus verantwortlich. Die ersten Weingärten wurden dem Stift von Herzog Tassilo III. gegeben. Mit der fortschreitenden Besiedlung gegen Osten kamen die heute angestammten Gebiete dazu. Inklusive Pachtwein ergibt das im Jahr 120.000 Flaschen für den Weinhandel. P. Siegfried erledigt mit jugendlicher Begeisterung seine so verschiedenen Aufgaben des Kellermeisters, des Religionslehrers und Jugendseelsorgers und des Computerfreaks – als solcher hat er das Computernetzwerk im ganzen Stift installiert.

Besondere Festtage werden im Stift in froher Gemeinschaft auch besonders gefeiert. Da ist der Dreikönigstag, an dem der Kellermeister P. Siegfried die neuen Weine vorstellt und sie in alten Trinkgefäßen den Mitbrüdern der Reihe nach zum Verkosten reicht. Die Osternacht und die Christnacht, Priesterweihen, Ordensprofessen, Jubiläen, der Maturaball und andere Feste haben ihren vertrauten Stellenwert. Und eine ganz besonders festliche Tradition hat der Stiftertag am 11. Dezember, Herzog Tassilos Todestag. Die von P. Gunther Kronecker 1834 komponierte Gunthervesper wird gespielt, aus dem Codex Millenarius das Evangelium vorgetragen und als Trinkgefäß kommt der Tassilokelch zum Einsatz. Beim großen Wildschweinessen gedenkt man auch des wilden Ebers vom Gründungsjahr – nicht aus Rache, nein! Sondern in Dankbarkeit für 1200 Jahre segensreiches Stiftsleben!