Auf Herz und Nieren geprüft

Was uns international vergleichende Statistiken über den Zustand des rumänischen Gesundheitswesens verraten

Symbolfoto: pexels.com

Zahlen aus dem Bericht „Gesundheit auf einen Blick: Europa 2024“ der OECD und EU-Kommission:
Von 100.000 Personen unter 75 Jahren starben 2021 in Rumänien 255 an einer „behandelbaren“ Krankheit. Im EU-Durchschnitt waren es 93. Rumänien lag damit auf Platz Eins.
Sogenannte „Gesunde Lebensjahre“, die rumänischen Bürgern ab 65 statistisch noch zur Verfügung stehen: 3,9 – im Vergleich zu 9,1 EU-weit (Daten für 2022). 

Die Ende letzten Jahres veröffentlichte Analyse hat es vermutlich nicht gebraucht, um Bürgern in Rumänien klarzumachen, dass ihr Gesundheitssystem krankt. Gleichzeitig ruft sie schmerzhaft in Erinnerung, dass es auch anders – besser – sein könnte. Doch taugt sie aufgrund der Vielfalt an darin beleuchteten Aspekten als Ausgangspunkt, um sich das rumänische Gesundheitswesen einmal jenseits dessen zuverlässig produzierter Skandalgeschichten, die wir alle gelesen haben, genauer anzuschauen und nach Ursachen für die Misere zu suchen.

Eine Misere, die in einem offenen Brief von Mihăiță Bariz, einem Aktivisten für Patientenrechte, an Premier Ciolacu und Präsident Johannis – mit welchem er die Absetzung des Ministers Rafila (PSD) fordert – so beschrieben wird: „Trotz wiederholt versprochener Reformen und Verbesserungen beschreibt die Realität der Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen in Rumänien eine tiefe Krise: Das Fehlen essenzieller Medikamente, eine prekäre Infrastruktur, unzureichende Ausstattung und erschöpftes medizinisches Personal. Chronisch kranke Patienten, insbesondere solche mit seltenen Krankheiten, werden weiterhin vernachlässigt, der Zugang zu rettenden Behandlungen bleibt eine große Herausforderung.“

Nicht nur die Behörden sind schuld

Vorausschicken sollte man Folgendes: Für schlechte Gesundheitsdaten der Bevölkerung kann man nicht alleine die Institutionen des Gesundheitswesens verantwortlich machen. Auch der individuelle Lebensstil und das eigene Verhalten in Bezug auf Prävention oder den Umgang mit Krankheiten spielen eine Rolle, ebenso Umwelteinflüsse wie Hitze oder Luftverschmutzung. Zu all diesen Fragen liefert der OECD-EU-Bericht wertvolle Erkenntnisse. Hier ein paar Auszüge aus einem Komplex, in dem Rumänien nicht immer, aber doch recht häufig schlecht abschneidet:

  • Rumänien hat im EU-Vergleich den höchsten Anteil an Männern, die angeben, sich regelmäßig „heftig“ zu betrinken (ca. 55 % aller über 15-Jährigen, Daten aus 2022).
  • 77,8 % aller Masernfälle in Europa im Jahr 2023 entfielen auf Rumänien. Während europaweit 88 % aller Kinder gegen Masern geimpft waren, lag die Quote in Rumänien nur bei knapp über 60 %.
  • In Bezug auf die Einnahme von Antibiotika liegt Rumänien im Feld des „hohen Konsums“ und gleichzeitig „hohen Konsums von Breitband-Mitteln“, die Folge ist der höchste gemessene Indikator für antimikrobielle Resistenz in der EU.
     

Natürlich muss auch individuelles Verhalten in der Regel im Kontext des Gesundheitssystems betrachtet werden. Experten beklagen beispielsweise fehlende staatliche Finanzierung für Vorsorgeuntersuchungen, zum Beispiel in Hinblick auf bestimmte Krebserkrankungen, wodurch viele Krankheiten erst zu spät entdeckt würden. So kann aus einer eigentlich „behandelbaren“ Krankheit schnell eine werden, die nicht mehr in den Griff zu kriegen ist.

Schlechte Versorgung auf dem Land

Die Gesundheit der Bürger hängt ganz entscheidend von der vorhandenen medizinischen Infrastruktur ab. Wer diese beschreiben möchte, kommt an einer Sache nicht vorbei: dem eklatanten Gefälle zwischen Stadt und Land. Rumänien liegt in Bezug auf das Verhältnis von Ärzten bzw. Pflegepersonal zur Bevölkerung jeweils unter dem EU-Durchschnitt – Randbemerkung: obwohl von beiden Gruppen überdurchschnittlich viele ausgebildet werden. Schaut man jedoch auf die regionale Verteilung, ergibt sich folgendes Bild: Bukarest liegt europaweit in der Spitzengruppe, was die Ausstattung mit Ärzten angeht, meilenweit entfernt von einigen ländlichen Gegenden, in denen diese mit der Lupe zu suchen sind.

Die ungleiche geografische Verteilung von Hausärzten und damit einher gehende Überbelastung bzw. Unterversorgung wird auch in der von der Regierung verabschiedeten Nationalen Gesundheitsstrategie 2023-2030 als gravierendes Problem diskutiert. Statistisch gesehen noch frappierender ist die Lage bei den Spezialisten: Auf einen Facharzt kamen 2023 nach Daten des Nationalen Statistikinstituts im ländlichen Raum 15,8 mal mehr Bürger als in urbanen Gegenden. Gerade Menschen, die nicht so mobil sind, werden dadurch stark benachteiligt.

Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung Rumänien aus 2022 weist auf eine weitere Dimension der ungleichen Verteilung hin – den Zusammenhang von Ärztedichte und wirtschaftlicher Lage der Region. Je reicher der Kreis, desto mehr medizinisches Personal im öffentlichen Sektor, so die Schlussfolgerung.

Die Regierung hat eine Liste von 55 Projekten veröffentlicht, für welche EU-Mittel aus dem Nationalen Aufbau- und Resilienzplan (PNRR) zur Errichtung ambulanter Einrichtungen bzw. deren Ausbau, Modernisierung oder Ausstattung bewilligt wurden. Gemäß der Vorgabe liegt ein Großteil davon in „weniger entwickelten“ Gegenden, aber auch einige Bukarester Vorhaben sind dabei. Ein Tropfen auf den heißen Stein?

Ein weiteres Mal ziehen wir den OECD-EU-Bericht heran: 2023 gaben etwa 9 % der über 15-jährigen Rumänen an, in den vergangenen 12 Monaten mindestens einmal keine medizinische Hilfe bekommen zu haben, obwohl sie diese gebraucht hätten. Im EU-Durchschnitt waren es weniger als halb so viele. Als Hauptgrund wurden zu hohen Kosten genannt. 

Zu beachten in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass etwa 11,5 % der in Rumänien gemeldeten Personen nicht krankenversichert sind, wobei unklar ist, wie viele davon „Karteileichen“ sind, da diese eigentlich im Ausland leben und wie viele deswegen tatsächlich kaum Zugang zu medizinischen Behandlungen haben – zu dieser Gruppe dürften laut Studienautoren u.a. Angehörige der Roma gehören, die keinen gültigen Personalausweis besitzen.

Viele Krankenhäuser, viele Probleme

Weiterhin fällt auf, dass das Gesundheitswesen sehr krankenhauslastig ist. In einem Überblick über das rumänische Gesundheitssystem mehrerer Temeswarer und Bukarester Wissenschaftler, erschienen 2023 in „Healthcare“, wird von „einer langen Tradition, medizinische Behandlung direkt von Spezialisten in Krankenhäusern zu erhalten“ gesprochen. In jedem Fall geht der Großteil der öffentlichen Finanzierung (42 %) in den stationären Bereich. Nur Zypern gab hier 2022 prozentual mehr. Zur Erinnerung: Rumänien gab in den letzten Jahren EU-weit insgesamt die geringste Summe pro Einwohner für das Gesundheitssystem aus.

Trotz der zahlenmäßig guten Ausstattung mit Krankenhausbetten (die drittmeisten pro Einwohner in der EU) scheinen die Bedarfe nicht immer erfüllt zu werden. Die NGO „Dăruiește Viață“ („Schenk Leben“) baute in Bukarest ein Krankenhaus für Kinder mit Krebs oder anderen schweren Erkrankungen, damit diese eine angemessene Behandlung erfahren – ausschließlich über Spenden und Sponsoren finanziert. Deren Mitgründerin Oana Gheorghe äußerte sich in einem Interview für RFI România so: „Ich denke, eine Reform des Gesundheitswesens ist notwendig und zwar dringend notwendig und wir brauchen eine echte Diskussion und keine populistische, in welcher uns Krankenhäuser, Krankenhäuser und nochmal Krankenhäuser versprochen werden“.

Zumal die vorhandenen Krankenhäuser zunächst einmal renoviert und modernisiert werden müssen. Diesbezüglich wurde – für jeden selbst erlebbar bzw. über die Medien mitzuverfolgen – in der jüngeren Vergangenheit viel zu wenig investiert. Gibt es Grund zur Hoffnung? Mit EU-Geldern aus dem PNRR in Höhe von etwa 1,7 Mrd. Euro sollen aktuell Neu-, Um- und Anbauten in 27 Kliniken landesweit finanziert werden. Zusätzlich sollen im Zeitraum 2024 bis 2030 2,6 Mrd. Euro für Neubauten, Renovierungen, Neuausstattungen etc. aus dem Nationalen Investitionsprogramm für die Krankenhausinfrastruktur (PNIIUS) fließen.

Das Gesundheitsministerium sieht damit die Kehrtwende geschafft. Auszug aus einer Pressemitteilung vom Juli 2024: „Wir haben einen schnellen Übergang von einem chronisch unterfinanzierten System zu konkreten Investitionen von 13 Mrd. Lei in eine neue Krankenhausinfrastruktur durch das Nationale Investitionsprogramm gemacht. Wir bauen neue Krankenhäuser in Rumänien, zum ersten Mal über zwei Programme, die nebeneinander laufen, PNRR und PNIIUS. Die Gesamtsumme der beiden Programme überschreitet 23 Mrd. Lei. Das ist eine nie dagewesene Anstrengung.“

Zweifel bleiben. Wieviel Geld davon wird am Ende tatsächlich da ankommen, wo es gebraucht wird? Wir sprechen im Übrigen über ein landesweites Netz von 717 Krankenhäusern oder ähnlichen Einrichtungen (darin allerdings auch private; Stand 2023; Daten: Nationales Statistikinstitut). Und dann bleiben noch andere Probleme, etwa die Personalsituation in den öffentlichen Kliniken.

Mehr Lohn, zu wenig Personal

Zu diesem Thema hat Răzvan Gae, Vizepräsident der Gewerkschaftsföderation Sanitas, mit etwa 100.000 Mitgliedern der größte Gewerkschaftsbund im Gesundheitsbereich, einiges zu sagen. Gae, der bis vor Kurzem noch selber in Teilzeit als Pfleger im Krankenhaus gearbeitet hat, schildert im Gespräch eindrücklich, welche Ausmaße die Unterbesetzung insbesondere beim Pflegepersonal angenommen hat. Wenn in der Nachtschicht eine Person alleine für zwei Etagen zuständig ist, könne man nur hoffen, dass der Herzstillstand nicht gerade auf der eintritt, wo diese sich nicht aufhält. Wenn eine Pflegerin krank wird, gibt es für diese häufig keinen Ersatz. Auf diese Ausgangslage trifft jetzt die kurz vor Jahresende beschlossene Notverordnung der Regierung, welche Neueinstellungen erst einmal ausschließt.

Die Personalsituation ist damit auch für die Gewerkschaft zum Hauptthema geworden, nachdem die (Brutto-)Gehälter in den medizinischen Berufen in den vergangenen Jahren deutlich angehoben wurden, bei den Ärzten insgesamt mehr als bei dem restlichen medizinischen Personal. Der Staat, der die Löhne für die öffentlichen Angestellten festlegt, hatte damit nicht zuletzt auf eine massive Abwanderung von Arbeitskräften aus dem Gesundheitswesen ins EU-Ausland reagiert. 

Laut Sanitas hat die Regierung ihr Versprechen der Lohnerhöhung aber nur zum Teil eingelöst. So wurde etwa die Basis für die gesondert geregelten Zuschläge, welche je nach Arbeitsbedingungen den Grundlohn nochmal ordentlich aufstocken – ebenfalls per Notverordnung –, auf dem Niveau von 2018 eingefroren. Eine Praxis, die Sanitas inzwischen vor Gericht anfechtet.

Gae spricht im weiteren Verlauf noch zwei andere Punkte an, die uns unweigerlich wieder zurück zum Thema „Umgang mit öffentlichen Geldern“ führen. Erstens die Rolle der privaten Anbieter, die einen wachsenden Anteil aus den Mitteln der Nationalen Krankenversicherung erhalten, aber häufig nur in den lukrativen medizinischen Bereichen tätig werden und damit für zusätzlichen finanziellen Druck auf das öffentliche System sorgen. 

Zweitens Veruntreuung oder Missbrauch von Geldern durch Akteure aus dem System – z. B. Krankenhausmanager, die bei Verträgen mit Zulieferern mitverdienen und sich über politische Seilschaften ihren Posten sichern oder Fachärzte, die während ihrer bezahlten Schicht im Krankenhaus Patienten – gegen Bezahlung – in privaten Praxen behandeln. Eine fehlende wirksame Kontrolle der täglichen Arbeitszeit werde ausgenutzt, um den Arbeitsplatz frühzeitig zu verlassen.

Trübe Zukunftsaussichten

Dass darüber hinaus Patienten teilweise nach wie vor selbst zur Kasse gebeten werden, bevor sie eine angemessene, ihnen eigentlich kostenfrei zustehende, Behandlung erfahren, ist bekannt und ein weiteres trauriges Kapitel des rumänischen Gesundheitswesen. Ansätze zur Bekämpfung des Problems beziehen auch die Bürger mit ein, die endlich verinnerlichen müssten, dass die Zahlung von Schmiergeld (mită) nicht normal, sondern kriminell ist.

Der Zustand des rumänischen Gesundheitswesens bereitet rumänischen Jugendlichen genau so viel Sorgen wie Krieg, ermittelte die Friedrich-Ebert-Stiftung. Er schürt den Auswanderungswunsch vieler Menschen, die darauf angewiesen sind bzw. darin arbeiten. Am Leben erhalten wird es durch Ärzte, Pflegekräfte und alle anderen, die unter schweren Bedingungen häufig hervorragende Arbeit leisten und durch Patienten, die vieles erdulden, was nicht so gut läuft und – im europäischen Vergleich – einen überdurchschnittlichen Beitrag zu den Gesundheitsausgaben aus eigener Tasche leisten. 

Tiefgreifende Reformen sind aktuell nicht in Sicht. Dafür ein wenig Hoffnung stiftendes Szenario: Auf der einen Seite EU-Gelder und mehr Investitionen, auf der anderen Seite ineffiziente Verwendung und andauernde Korruption. Über all dem demografischer Wandel, Staatsdefizit und Austeritätspolitik. Zur Kontrolle bitte in einigen Jahren noch einmal vorstellen!