Aufrüttelnder Essay-Band über Europa und die Nationalstaaten

Neues Buch von György Konrád verdeutlicht aktuelle EU-Probleme und kritisiert Orbán-Politik in Ungarn

Der große ungarische Autor György Konrád zählt nicht nur zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schriftstellern in Europa, er findet auch als politischer Essayist viel Gehör. Mit seinem Essay „Europa und die Nationalstaaten“ legt er nun eine überaus lesenswerte Radiografie der europäischen politischen Zivilisation der Gegenwart vor und thematisiert besonders das keineswegs einfache Verhältnis von „Europa“ in Form der EU und den daran „beteiligten“ Nationalstaaten. Sein Augenmerk gilt verstärkt der Entwicklung in seinem Heimatland Ungarn. Er kritisiert den Nationalismus und den autoritären Politik- und Führungsstil des FIDESZ-Vorsitzenden und ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, dem er letztlich faschistische Tendenzen vorwirft.

György Konrád wurde 1933 in der Nähe von Debrecen als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Im Jahr 1944 entging er nur knapp seiner Verhaftung durch Nationalsozialisten und ungarische Pfeilkreuzler, die ihn ins Konzentrationslager Auschwitz deportieren wollten. Mit seinen Geschwistern floh er zu Verwandten nach Budapest und überlebte dort den Holocaust. Sein Romandebüt „Der Besucher“ veröffentlichte er 1969. Er plädierte stets für ein friedliches Mitteleuropa, das die Grenzen zwischen Ost und West überwinden solle. Als Dissident zählte er neben Václav Havel, Milan Kundera oder Pavel Kohout zu den wichtigsten Stimmen hinter dem Eisernen Vorhang vor 1989. Zwischen 1978 und 1988 hatte er ein Publikationsverbot, das erst 1989 aufgehoben wurde. Der aktuelle Band ist eine Kombination aus einer Streitschrift gegen Orbán und politischem Vermächtnis zu Europa.

Konrád fragt nach Identität und Selbstbild, Grundlagen und Zustand Europas. Europa fordere und biete heute eine „Pluralität der Identitäten“, man sei nicht mehr nur Staatsbürger eines Landes, sondern zugleich auch der Europäischen Union. Diese bestehe, „damit wir Europäer, geteilt in Nationen und deren Verbündete, nicht die jahrtausendealte Tradition blutiger Auseinandersetzungen fortsetzen“. Neben dem Friedensprojekt ist Europa für Konrád ein Kulturprojekt. Europa werde zusammengehalten von der Kultur, der religiösen und weltlichen Literatur. Politisches Anliegen Europas sei es, demokratische Zivilisation und die Achtung vor dem Recht weltweit zu fördern. Europa definiert er als „Schule des Zusammenlebens“.

Aufgrund seiner Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus freut er sich über „die europäische, konstitutionelle Beschränkung nationalstaatlicher Souveränität“. Konrád zeichnet im Blick auf die EU ein gewisser Optimismus aus, er hofft auf eine Beschneidung der „Macht der nationalen politischen Führer“. Auch wenn dieses Anliegen aufgrund seiner Biografie nachvollziehbar ist, so stellt sich doch heute die Frage bisweilen genau in die entgegengesetzte Richtung: Wer begrenzt und kontrolliert die von Wirtschaftslobbyismus massiv beeinflusste und beeinflussbare sowie oft höchst intransparent agierende EU-Bürokratie (als Beispiele mögen das widersinnige Glühlampenverbot oder der Einfluss der Lebensmittelindustrie auf Auflagen für kleine und mittelständische Konkurrenzunternehmen gelten)? Hier äußern sich mittlerweile demokratisch kaum legitimierte und kontrollierte zentralistische Tendenzen und eine Regulierungswut, die das Prinzip der Subsidiarität längst auf dem Verwaltungsweg aushebeln und damit leider gerade auch rechten Parteien die Bühne bereiten. Dabei ist die EU ja gerade „nicht nur eine Interessengemeinschaft, sondern auch eine Werte-, ja Sympathiegemeinschaft“, wie er völlig richtig schreibt.

Konrád kritisiert auch manches politische Handeln des Westens, wie den Kosovokrieg 1999 gegen Serbien. Es sei ein „verblüffender Widerspruch“, dass der Westen „während er selbst ständig die Integration anstrebt, auf dem Balkan konsequent desintegrative Tendenzen unterstützte“. Er äußert sich auch kritisch zu Forderungen nach einem EU-Beitritt der Türkei und erkennt im Islamismus „eine neototalitäre Ideologie“.
Sein zweites großes Thema ist die Generalkritik am ungarischen Regierungs- und Parteichef Viktor Orbán und dessen Politik der „Vereinigung von Populismus und Nationalismus“ in Ungarn. Hier eifert der sonst klug und souverän argumentierende große ungarische Intellektuelle gelegentlich etwas über sein Ziel hinaus, der Band wird dann zu einer persönlichen Abrechnung fast schon im Wahlkampfmodus, wobei er sehr deutlich macht, dass seine persönliche Biografie die Schärfe seiner Ablehnung Orbáns durchaus motiviert und etwa seine Forderung nach „Democracy Watch“ in den Transformationsstaaten Ost- und Südosteuropas unbestreitbar begründet ist.

Der Autor markiert die Problemtendenzen seines Landes wie das Mediengesetz Orbáns oder die fehlende Vergangenheitsbewältigung sowohl des Faschismus wie des Kommunismus in Ungarn deutlich, überzeichnet aber, wenn er von „Führerkult“ spricht, vor einem „autoritären Führerstaat“ warnt und Orbán vorwirft, er habe „die Republik Ungarn, die pluralistische Demokratie beseitigt“. Konrad schreibt: „Es ist an der Zeit zu entscheiden, ob Ungarn eine liberale Demokratie wird oder aber ein postkommunistischer nationaler Obrigkeitsstaat mit einer gewissen Nähe zum Neofaschismus.“
Doch Orbáns Wahlergebnisse fallen nicht vom Himmel, sondern spiegeln stets auch missglückte Phänomene der Transformation. Manche sich dabei seit 1990 bereichernden Akteure und Cliquen befördern die Sehnsucht nach autoritärer Führung in Ländern wie Ungarn und Rumänien und die Demokratieverdrossenheit bis hin zu miserabler Wahlbeteiligung (vgl. dazu meinen Essay „Die neuen Eliten. Zwischen Kommunismus und Konsumismus in Rumänien“, in: Wespennest. Zeitschrift für brauchbare Texte und Bilder (Wien), Nr. 151/2008, S. 4-10). Und nationale, bisweilen religiöse Identifikationsmodelle sind für viele Menschen greifbarer als eine Identifikation mit einer EU, die immer weniger als Friedensunion, sondern als Union der Richtlinien und Verordnungen bis in das Privatleben hinein wahrgenommen wird.

Konráds Essay ist kein wissenschaftlicher Beitrag, sondern durchaus als Kampfschrift liberaler Ausrichtung zu verstehen. Der kluge Essay ruft Europa zur zivilen Ordnung, formuliert konzentriert die Kritik an Viktor Orbán und ruft zur Haltung auf. Auffällig ist die schlechte Bindung des Taschenbuches. Das Büchlein zerflattert schnell. Da erwartet man bei Suhrkamp Besseres.


György Konrád: „Europa und die Nationalstaaten“. Essay, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, Broschur, 183 Seiten, ISBN 978-3-518-42371-4, 14,95 Euro