Aus dunkler Zeit in Bistritz

Ein Blick in die Geschichte der Gemeinde anlässlich des bevorstehenden 450. Jubiläums der Einweihung der evangelischen Stadtpfarrkirche

Die Bistritzer Stadtpfarrkirche erstrahlt erneut als Wahrzeichen der Stadt.

Die restaurierte Sakristeitür mit wunderschöner Einlegearbeit, datiert 1563 – also vor genau 450 Jahren.
Fotos: Johann Dieter Krauss

Am 24. August feiert Bistritz 450 Jahre seit der Einweihung der Evangelischen Stadtpfarrkirche. Dieses Fest wird nicht nur von der Kirchengemeinde, sondern auch von der HOG Bistritz in Deutschland und von der Stadt Bistritz veranstaltet. Das Munizipium Bistritz erkennt in dieser Kirche und vor allem in deren Turm ihr Wahrzeichen. Das Besondere dieser Stadtkirche ist es, dass sie in ihrer heutigen Form erst nach der Reformation, das heißt als evangelisches Gotteshaus fertiggestellt wurde. Nach Brand und anderen Schäden ist sie in den Jahren 1560-1563 stark umgebaut worden, wobei sie im Inneren die charakteristischen Säulen und außen die Westfassade im Renaissance-Stil erhielt. 1563, das heißt vor 450 Jahren, wurde sie als evangelische Stadtpfarrkirche dem Gebrauch übergeben.

Im Zusammenhang der Vorbereitung dieses Festes erreichte mich eine Anfrage, betreffend die kritische Zeit der Kirchengemeinde Bistritz nach der Flucht während des Krieges im Herbst 1944, als die Front näher rückte. Diese Zeit gleicht tatsächlich einem dunklen Fleck, weil kaum jemand danach fragt und nur wenige Dokumente da sind, welche die verworrenen Verhältnisse jener Monate durchleuchten können. In mir erweckte diese Anfrage zunächst eine persönliche Erinnerung. – Als ich vierzehn Jahre alt war, es muss Anfang September 1950 gewesen sein, besuchte ich meine Großeltern in Bistritz. Sie wohnten im Eckhaus am unteren Ende der Ungargasse, links. Pfarrer i. R. Thomas Rehner, mein Großvater, zeigte mir die Stadt und erzählte von den Tagen der Flucht und den Ereignissen danach. Die Besitzerin des Hauses, seine Schwiegermutter (meine Urgroßmutter), war zur Zeit der Flucht 94 Jahre alt und nicht transportfähig. Außerdem wollte mein Großvater nicht fliehen, was ihm ein Wortgefecht mit deutschen Militärs eintrug und mit der Beschimpfung endete: „Sie sind nicht wert, ein Deutscher zu sein.“

Nachdem die letzten Flüchtlingszüge abgefahren waren, sprengten die Deutschen die Brücken der Bistritz, auch die Budaker Brücke, vor der wir standen. Wenige Stunden nach der Sprengung kamen die Russen, wateten in ihren Stiefeln durch die Bistritz und fuhren auch mit den Panzern durch. Die Zerstörung der Brücken war keine Behinderung des Feindes, lediglich ein Schaden für die Stadt. In den folgenden Tagen wurde das Haus durchsucht und mein Großvater verhaftet, ohne dass ihm etwas zur Last gelegt werden konnte. Drei Tage verbrachte er allein in einer Gefängniszelle, nur weil er ein Deutscher war. Danach wurde er freigelassen und durfte sogar Gottesdienst halten, was er Sonntag für Sonntag tat, bis nach einem Jahr zwei der geflüchteten Pfarrer heimkehrten und den Dienst übernahmen. Auch Beerdigungen bestellte er, nicht nur in Bistritz, sondern ebenso auf umliegenden Dörfern, was angesichts der russischen Besatzung zuweilen nicht ungefährlich war.

Dieses hat mein Großvater erzählt, ich weiß es noch genau. Als jene Anfrage an mich herangetragen wurde, habe ich davon aber nichts gesagt, sondern in den Akten gesucht. Da gibt es große Lücken. Zu meiner Überraschung fand ich jedoch bald ein Dokument, das mein Bild von jenen dunklen Monaten in Bistritz bestätigt und ergänzt. Typisch für jene Zeit, liegt es vor mir: In einem gebrauchten Schulheft, in welchem von Kindeshand nur die ersten fünf Seiten beschriftet sind, erscheint ab Seite sechs ein Sitzungsprotokoll vom 19. November 1944, aus dem hervorgeht, dass sich an diesem Tag anstelle des durch die Flucht praktisch aufgelösten Presbyteriums ein Kirchenrat konstituiert. Wie Kirchenmeister Karl Galter erklärt, wurde er vom flüchtenden Stadtpfarrer Dr. Carl Molitoris mit der Sorge für die Gebäude und Grundstücke der Kirchengemeinde betraut. Das nahm er zum Anlass, im Anschluss an den Gottesdienst den anwesenden Gemeindegliedern die Gründung eines Kirchenrates vorzuschlagen, wobei er gleich auch acht Personen als mögliche Mitglieder desselben nannte. Die Anwesenden nahmen diesen Vorschlag unverändert an. Als Vorsitzer wurde dabei Pfarrer i. R. Thomas Rehner genannt. Nachdem aber Dr. Rudolf Schuller zum Kurator gewählt worden war, erklärte Rehner gleich zu Beginn der zweiten Sitzung des Kirchenrates, dass der Vorsitz diesem zusteht, da er selbst nicht die Funktion des Stadtpfarrers vertritt, sondern lediglich den Dienst eines Predigers wahrnimmt.

Der so entstandene Kirchenrat hat allem Anschein nach versucht, das Nötige zu tun und dabei die damals allerdings sehr begrenzten Möglichkeiten auszuschöpfen. Im Lauf eines Jahres (November 1944 bis November 1945) wurden 20 Sitzungen protokolliert, in denen alle Gegenstände behandelt wurden, mit denen sich ein Presbyterium in normalen Zeiten beschäftigt. So wird zum Beispiel die Frage der Wasserleitung in den Kirchenhäusern behandelt, die Verpachtung der Kirchengärten, die Deckung der dringendsten Ausgaben, die Anstellung eines Kirchendieners. Es fällt auf, dass im Januar 1945 keine Sitzung stattfand, was durch die Deportation nach Russland und den dadurch veranlassten Terror zu erklären ist. Ebenso fällt auf, dass zwischen Mitte Mai und Mitte Juli keine Sitzung gehalten wurde, was durch die sachlich kurze Feststellung vom 20. Juli verständlich wird: Das Kapitelshaus kann nicht an Dr. Spitz verpachtet werden, weil die Kirchenhäuser für heimkehrende Flüchtlinge gebraucht werden. Am 9. September wird nochmals dringend die Frage der Flüchtlingsunterbringung verhandelt, dazu die Errichtung einer Volksküche wie auch die Wiedereröffnung von Schule und Kindergarten. Damit sind wir bei den dringendsten Fragen jener dunklen Zeit.

Schon im Herbst 1944 hatte Bischof Glondys den evangelischen Pfarrer Mol-nár aus Neumarkt/Târgu Mureş gebeten, sich um die verstreuten Glaubensgenossen in Nordsiebenbürgen und namentlich in Nassod/Năsăud zu bemühen, was der Kirchenausschuss mit der Begründung ablehnte, die Glaubensgenossen in Nassod befänden sich in einem Lager und das Auftreten eines evangelischen Pfarrers würde die vorhandenen Verdächtigungen und den Unwillen der Machthaber nur verstärken; der Besuch würde den Lagerinsassen somit eher schaden als nützen. Im Sommer 1945 wird Pfarrer Zoltán Árvay von dem inzwischen neu gewählten Bischof Friedrich Müller mit dem Diasporadienst in Nordsiebenbürgen betraut. Inzwischen waren viele im Vorjahr geflüchtete Glaubensgenossen aus Stadt und Land eingetroffen, vielfach ausgeraubt, ausgehungert und misshandelt. Árvay nimmt seinen Auftrag wahr, indem er die Gemeinden besucht, predigt und Hilfsaktionen durchführt. Nachdem die Pfarrer Alfred Menning und Emil Casper heimgekehrt sind, wird Menning am 28. November 1945 zum provisorischen Stadtpfarrer gewählt. In der gleichen Sitzung legen Kurator Dr. Rudolf Schuller und Pfarrer Thomas Rehner ihren Dienst nieder und ziehen sich aus dem Kirchenrat zurück.

Genau einen Monat später, am 28. Dezember 1945, wird Dr. Rolf Csallner zum Kurator gewählt, welches Amt er bis zu seiner Auswanderung innehat. Im Landeskonsistorium wird wiederholt über die Lage in Nordsiebenbürgen beraten, wobei sich vor allem Dechant Ludwig Klaster für die Durchführung regulärer Kirchenwahlen und Normalisierung der Verhältnisse einsetzt, was jedoch an den äußeren, politischen Verhältnissen scheitert. Reguläre Wahlen in die kirchlichen Körperschaften werden erst 1949 vollzogen, nach dem Erscheinen der neuen Kirchenordnung. Bis dahin leitet in Bistritz der Kirchenrat die Gemeinde. Über die Wirtschaftslage der Kirchengemeinde Bistritz in dieser kritischen Zeit gibt der zusammenfassende Bericht des Kirchenmeisters Michael Gottschling vom 20. Januar 1951 Aufschluss.

Ein wichtiges Zeitzeugnis für die gesamte kritische Periode 1944-1949, besonders aber auch für das dunkle Jahr 1944-1945, findet sich in den Erinnerungen des Buchdruckers Gustav Zikeli (Südostdeutsches Kulturwerk München 1989, mit Einleitung und Anmerkungen von Michael Kroner). Der entschiedene Sozialdemokrat, der von seinen Bistritzer Landsleuten vielfach als Außenseiter angesehen wurde, war viele Jahre hindurch Mitglied des Presbyteriums gewesen, weil er die Kirche als Trägerin der Schulen wie auch ihr soziales Engagement schätzte. Nach 1940, als sich auch dort das „Führerprinzip“ breit machte, hatte er sich aus dem Presbyterium zurückgezogen. Nach der Besetzung der Stadt durch die Rote Armee kam er als Sozialdemokrat in den Stadtrat, verlor aber seinen sozialkritischen Standpunkt nicht. Er erlebte das dunkle Jahr und auch die Zeit danach aus einem anderen Blickwinkel als dem kirchlichen, wobei er Zugang zu Informationen hatte, die sich im Kirchenarchiv nicht finden.

So gibt er an, dass unmittelbar nach der Flucht in der Stadt rund 380 Deutsche gezählt wurden. Bei der Volkszählung Anfang 1948 waren es 1767 Sachsen und Deutsche; 1940 hatte die evangelische Kirchengemeinde Bistritz 4981 Seelen ausgewiesen, daneben zählte die Stadt in jenem Jahr weitere 9147 nicht evangelische Einwohner. Mit großer Freimütigkeit erzählt Gustav Zikeli von der Internierung von Heimkehrern in Arbeitslager und davon, dass viele nicht nach Hause gelassen, sondern in rein rumänische Dörfer geschickt wurden. Verschiedentlich protestierte er gegen Aktionen, die nicht sozialistischem Denken, sondern nationalem Hass entsprangen, doch meistens blieben seine Eingaben ohne Erfolg. Die Fusionierung der kommunistischen mit der sozialdemokratischen Partei im Februar 1948 hat er nicht mitgemacht, sondern seine Parteitätigkeit eingestellt. Abgeschlossen hat er seine Erinnerungen 1951, im Jahr vor seinem Tod.

Zuletzt lässt sich feststellen, dass die Quellen zu der dunklen Zeit nach der Flucht der Nordsiebenbürger noch nicht ausgeschöpft sind. So kann es beispielsweise verwirren, wenn wir erfahren, dass am 13. Mai 1945 noch nicht in Lei, sondern in Pengö gerechnet wurde, der ungarischen Währung zu Hortys Zeit. Gleicherweise sind die Besitzverhältnisse und Zuständigkeiten stark verworren und unklar. Es bedarf der gründlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand, um einen Durchblick zu gewinnen. Vor allem aber sollte die damals schwer betroffene Bevölkerungsgruppe der Daheimgebliebenen wie auch der Heimkehrer von der Nachwelt nicht vergessen werden.