Bahnbrechende Entdeckung unterstreicht Bedeutung von Adoption

Harvard-Studie: Rumänische Heimkinder erleiden früh bleibende Defizite in Hirnentwicklung

Detaillierte Ergebnisse zur genannten Langzeitstudie: Charles A. Nelson, Nathan A. Fox, Charles H. Zeanah: Romania’s Abandoned Children: Deprivation, Brain Development, and the Struggle for Recovery. Harvard University Press 2014. 416 Seiten. ISBN 9780674724709

In der Ausgabe des „Harvard Magazines“ für Januar/Februar 2023 wurde das Ergebnis einer langjährigen, bahnbrechenden Studie zum Thema Entwicklungsschäden bei Kindern aufgrund von Institutionalisierung veröffentlicht – mit erschütterndem Ergebnis: Die in den ersten Lebensjahren erlittenen psychosozialen Defizite sind später nicht mehr aufzuholen, denn die Frühschäden führen zu bleibenden Veränderungen im Gehirn. Kinder, die im Heim aufwuchsen, haben eine deutlich dickere Großhirnrinde, weil ihr Gehirn bestimmte Entwicklungsphasen überspringt. Diese Phasen sind essenziell für die Entwicklung des Sozialverhaltens sowie der Planungsfähigkeit, Gesichtserkennung und das Kurzzeitgedächtnis. 

Die von Charles Nelson, Professor für Pädiatrie, Neurologie und Psychologie an der Harvard University im Jahr 2000 begonnene Studie wurde in Rumänien durchgeführt. Nelson wollte der Frage auf den Grund gehen, warum Heimkinder öfter als nicht institutionalisierte Kinder an Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität (ADHS-Syndrom) und anderen psychischen Störungen leiden.  

Für die Studie wurden 136 rumänische Heimkinder im Alter von etwa 20 Monaten ausgewählt. Die Hälfte wurde an Pflegefamilien vermittelt, die anderen Kinder blieben im Heim, wobei die Verteilung nach Zufallsprinzip erfolgte. Als Kontrollgruppe dienten 72 Kinder, die niemals im Heim gewesen waren. Über die Ergebnisse der 22 Jahre andauernden Studie sind in Etappen mehr als 100 wissenschaftliche Abhandlungen und ein Buch geschrieben worden. Aus diesen habe man recht schnell die Nachteile der Institutionalisierung auf die psychosoziale Entwicklung erkannt. 

Frühes Defizit sichtbar im Gehirn

Die jüngsten Erkenntnisse betreffen die Entwicklung der Großhirnrinde im vorderen Stirnlappenbereich, die erst im Alter zwischen 8 und 16 Jahren vollendet wird. Hier zeigten sich große Unterschiede zwischen den Kindern, die im Heim verblieben waren, und jenen, die frühzeitig an Pflegefamilien vermittelt wurden. Sie betreffen Hirnregionen, die für geistige Fähigkeiten und Sozialverhalten zuständig sind und erklären damit, warum obengenannte psychische Störungen bei institutionalisierten Kindern häufiger auftreten.

Der Einfluss sehr früher psychologischer Vernachlässigung war anatomisch deutlich sichtbar: Die Großhirnrinde in diesem Bereich war bei den Heimkindern wesentlich dicker. Bei den Kindern, die hingegen frühzeitig in einer normalen familiären Umgebung aufgewachsen sind, erfolgte auf dem Weg zur Adoleszenz in diesem Bereich ein normales Schrumpfen der Großhirnrinde, bei dem überflüssige neuronale Kreisläufe verworfen werden. 

Ein Beispiel, wie sich dieser Prozess auswirkt, ist die Gesichtserkennung: Während ein normal entwickelter Erwachsener zwischen zwei Gesichtern in Sekundenbruchteilen unterscheiden kann, brauchen Babys dazu deutlich länger, weil bei ihnen diese Spezialisierung noch nicht stattgefunden hat. Der Sinneseindruck wird von viel mehr Synapsen bearbeitet, entsprechend länger dauert der Prozess. „Die Kinder aus dem Heim hatten einen wesentlich dickeren Frontallappen, weil sie diese überschüssigen Verbindungen nicht verworfen haben“, erklärt Nelson dem „Harvard Magazine“. Die Verdickung der Großhirnrinde sei bereits in den ersten Lebensjahren erkennbar gewesen – und war bei einer erneuten Untersuchung mit 16 Jahren immer noch vorhanden. 

Das Ergebnis sei ernüchternd, schließen die Autoren der Studie, weil es zeige, dass man Kinder für eine normale Gehirnentwicklung sehr früh aus dem Heim nehmen müsse – am besten bis zum zweiten Lebensjahr. 

Beste Option: Pflegefamilie oder Adoption

Die in Rumänien durchgeführte Studie ist die erste, die mit wissenschaftlichen Methoden belegt, dass ein frühes Defizit an Aufmerksamkeit und Fürsorge die spätere Hirnentwicklung nachhaltig beeinflusst. Die Studie wäre nur in wenigen Ländern möglich gewesen, erklärt Nelson, denn das beabsichtigte Zurückbehalten von adoptionsfähigen Kindern im Heim gilt in den meisten Ländern als unethisch. Da Rumänien jedoch zum Zeitpunkt des Studienbeginns über kein staatliches Adoptionsprogramm verfügte – aus verschiedenen Befürchtungen heraus, etwa Kinderhandel oder Missbrauch –, musste für die Durchführung extra ein Pflegefamiliennetz mit Adoptionsmöglichkeit geschaffen werden. So kam zumindest die Hälfte der für die Studie ausgewählten Heimkinder in den Genuss einer familiären Umgebung, die ihnen eine normale Entwicklung erlaubte, so Nelson. Ein positiver Effekt der Studie sei, dass Rumänien die großen Kinderheime, wie sie zur Zeit Ceaușescus und mehr als zehn Jahre nach seinem Fall noch üblich gewesen waren, inzwischen aufgelöst und sein Kinderfürsorgesystem gründlich reformiert hat. Das heutige Adoptionssystem entspräche in etwa dem der USA, laut Nelson.

Die Studie schließt mit der Erkenntnis, dass das Aufwachsen im Heim für ein Kind die schlechteste aller Varianten darstelle; wobei aber jede andere Form der Vernachlässigung ähnliche Auswirkungen habe. Die beste Option böte das Aufwachsen in einer Pflege- oder Adoptivfamilie. Es sei daher dringend nötig, Strategien zu entwickeln, die diese Chance für so viele Kinder wie möglich erschließen.


Der Artikel „Deprivation’s Mark on the Brain“ (Die Spuren von Vernachlässigung im Gehirn) von Daniel Oberhaus erschien im „Harvard Magazine“ und ist online verfügbar unter harvardmagazine.com/2023/01