Christlich-muslimische Welt – am besten göttlich und gewaltlos

Rückschlüsse einer theologischen Konferenz in Hermannstadt

„Eine mystische Theologie existiert nicht nur, sie ist auch möglich!“, bekräftigte Dr. Adnane Mokrani in Hermannstadt. | Fotos: Klaus Philippi

Dr. Seyedeh Saeideh Mir Sadri, Gastprofessorin für Islamische Theologie und Bildung an der Universität Zürich, bestätigte am Vortragspult, dass „es gefährlich ist, sich selbst ins Zentrum zu rücken!“

Venedigs Aufstieg zu einer adriatischen Großmacht ab dem frühen Mittelalter und viel mehr noch die Grundsteinlegung der Basilica di San Marco im Jahr 1063 stützten sich auf eine Finte, auf einen Trick. Weil sich in der Hauptstadt der Seerepublik früh im 9. Jahrhundert Unzufriedenheit über den vergleichsweise geringen Marktwert des Heiligen Theodor als Schutzpatron der Lagune einbürgerte – Rom war und ist noch bis heute immerhin Sitz des Stuhles Petri – musste ein gewichtigeres Sinnbild her, mit dem Venedig den Ehrgeiz seiner Vorstellungen nachdrücklicher untermauern konnte. Der Legende nach wurden um das Jahr 828 die Kaufleute Tribunus und Rusticus nach Alexandrien entsandt, wo sie die Nachricht von der Absicht des Kalifen bestätigt sahen, genau die Kirche abreißen zu lassen, die das Grab des Evangelisten Markus beherbergte. Eine neue Moschee sollte aus dem Marmor des zerstörten Christentempels in die Höhe gebaut werden.

Griechische, sprich orthodoxe Mönche waren es, die in Alexandrien die Kirche des Heiligen Markus verwalteten. Würde ihr keine reale Gefahr gedroht haben, hätten sie Tribunus und Rusticus wohl auch nicht gestattet, dessen Reliquien in Sicherheit zu schmuggeln. Aber es kam, wie es kommen musste und seit knapp 1200 Jahren bekannt ist: die beiden venezianischen Kaufleute entnahmen der Grabstätte in Alexandrien bei Nacht und Nebel die sterblichen Überreste von Markus, die sie auf dem Seeweg in ihre Heimatstadt zu überführen hatten, und verstauten getarnt in dessen Schrein die Reliquien von Märtyrerin Claudia, die ihrerseits einem anderen Grab entnommen worden waren.

Der Duft, den die Rochade in der Kirche von Alexandrien auslöste, ließ die christlichen Einwohner Ägyptens nicht vermuten, dass der ungewohnt olfaktorische Reiz vom Grab des Heiligen Markus nicht mit rechten Dingen zu tun haben konnte. Freigiebig nichtsahnend über den Tisch gezogen wurden allerdings auch die muslimischen Zöllner am Hafen von Alexandrien. Tribunus und Rusticus legten die Reliquien für seinen maritimen Transport nach Venedig unter eine Schicht Schweinefleisch. Das verbotene Tier tarnte den Raub des Heiligen.

Auch weiterhin blieb Venedig seinem Kurs treu. Konstantinopel, das 1453 vom Osmanischen Reich erobert wurde, musste bereits 1204 während des Vierten Kreuzzugs manche Plünderung durch venezianische und französische Kreuzfahrer hart an sich verüben lassen. In der Hauptstadt des Byzanz bediente sich das christliche Abendland frei nach Belieben und Gutdünken, ohne zur Ordnung gerufen zu werden. Trat Letzteres, betont polemisch gefragt, erst 2020 ein, als der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Hagia Sophia von Istanbul zur Moschee erklärte – und die EU kaum darauf reagierte?

Nüchternes Wieder-Aufrollen

Viel ist schiefgelaufen in der Verständigung zwischen Christen und Muslimen und läuft noch heute schief, keine Frage. Ausnahmen gibt es noch lange nicht so viele, als dass sie Konflikte im Nahen Osten, die längst schon auch auf Europa abfärben, dauerhaft entspannen und ihnen ihr Gewaltpotenzial nehmen könnten. Ausnahmen bestätigen eben doch nur die Regel – auch die religiöse Regel. Ausnahmen wie der jüdische Christenverfolger Saulus von Tarsus, der in Damaskus von Gott mit einer mystischen Erfahrung heimgesucht wurde und fortan als glühender Christenprediger und Apostel Paulus für den Glauben an den Vater, Sohn und Heiligen Geist missionierte. Zum Problem jedoch kann seine Geschichte denaturieren, wenn sie als  Nährstoff für Antisemitismus missbraucht wird. Oder wenn ganz besonders rechtgläubige Christen sich einbilden, Gott habe durch die Bekehrung des Saulus im syrischen Damaskus dem Judentum und Islam demonstrieren wollen, welche Religion in der Welt das Sagen hat.

Schriftsteller Christian Lehnert veröffentlichte 2013 im Suhrkamp-Verlag seinen Essay „Korinthische Brocken“ über „Paulus“, der „aufschaut und ins Dunkel starrt – eben war da ein Licht, und es bleibt ein geglaubtes Licht. Verloschen. Für immer erstrahlt.“ So oder ähnlich könne man sich vorstellen, was einen Mystiker zum Mystiker macht, ließ Anfang September in Hermannstadt/Sibiu während der zweitägigen Konferenz des international besetzten Forschungsprojekts „Mystical Theology and Muslim-Christian Dialogue“ auch Theologin Margareta Gruber, franziskanische Ordensschwester, als eine von mehr als 20 Referentinnen und Referenten erahnen.

Nicht von Gewalt, aber über interreligiöse Differenzen und letztlich doch von dem „Glauben an den universellen Gott“, wie Dr. Stefan Tobler als Forschungsprojekt-Leiter es ausdrückte, wurde Freitag, am 9. September, und Samstag, am 10. September, in der Aula des Departements der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (ULBS) für Geschichte, Kulturerbe und Protestantische Theologie überlegt gesprochen. In ausnahmslos akademisch versammelter Runde, in der man grundehrlich zueinander war und nicht verschwieg, dass der in allen Weltreligionen vertretene Fundamentalismus zwar laut ist, aber nicht für Mehrheiten spricht. Proselytische Stellungnahmen blieben außen vor.

„Wie können wir zuhören, ohne gleich ans Antworten zu denken?“, fragte Muslim Dr. Adnane Mokrani, Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana und Mitglied der in Palermo eingetragenen Stiftung für Religionswissenschaften, rhetorisch in den Raum. Statt mit „Macht und imperialistischen Strömungen“, wovon sie frei sein sollte, habe Mystik als etwas „Narratives, Poetisches“ viel eher mit „nonviolenter Theologie“ zu tun und wäre „ein guter Weg, unsere Religionen einschließlicher zu gestalten.“ Sie in einem „strengen“ Sinn zu beschreiben, funktioniere nicht, urteilte Ordensschwester Margareta Gruber.

Zum Frieden rufendes Feuer

„Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“ – der auch unter Nicht-Theologen bekannteste Ausspruch von Katholik Karl Rahner (1904-1984) durfte dabei nicht unerwähnt bleiben. Dr. Roman Siebenrock von der Universität Innsbruck führte ihn in Hermannstadt ins Feld der Forschungsprojekt-Tagung. Und nebst Dr. Piero Coda, General-Sekretär der Internationalen Theologischen Kommission, sowie Dr. Roberto Catalano war Dr. Roman Siebenrock es auch, der ebenso gezielt die Biografie der katholischen Vordenkerin Chiara Lubich (1920-2008), der Gründerin der Fokolar-Bewegung, in Erinnerung rief.

Entsprechend der neutestamentlichen Vorstellung, dass „alle eins sein sollen“ (Evangelium des Johannes Kapitel 17, Vers 21), stellte Chiara Lubich 1943 die Hausregeln einer nach wie vor weltweit wachsenden Gläubigen-Gemeinschaft nicht nur von Christen auf, die sich alle um ein und dasselbe Feuer friedlichen Miteinanders – daher der Name „Fokolar“-Bewegung – sammeln. Dieser ideelle Nährboden globalen Friedens herrscht seit 2008 einschließlich an einer europäischen Hochschule, am Istituto Universitario Sophia in Loppiano bei Florenz. Fünf über Mystik Forschende vertraten es auf der christlich-muslimischen Tagung in Hermannstadt: Dr. Piero Coda und Dr. Roberto Catalano, Dr. Antonio Bergamo, Piotr Zygulski als Promotions-Studierender und Soziologe Dr. Bernhard Callebaut, der sein 2022 vom Verlag Cittŕ Nuova publiziertes Buch „Religioni in dialogo e carisma dell´unitŕ“ dabei hatte.

Auf der Rückseite dieses Buchdeckels ein Statement von Historiker, Soziologe und Theologe Émile Poulat (1920-2014): „Il Rinascimento inventň l´umanismo. Noi esploriamo l´universalismo.“ Keine Kritik am Eurozentrismus, die das Ziel verfolgt, die Kulturleistungen des alten Kontinents zum Objekt von Cancel Culture zu erklären, oder rückwirkend das Koloniale abendländischer Geschichtsschreibung ohne Aussicht auf Rehabilitation anzuklagen versucht. Aber Kritik, die den Blick für den religiösen Weltfrieden schärfen helfen möchte, so schwer er auch zu verhandeln und global in die Tat umzusetzen ist.

„Freeing the mission from aggresion“ (die Mission von Aggression befreien), schlussfolgerte ein Satz im Vortrag des orthodoxen Theologen Dr. Alexandru-Marius Crișan, Forscher an der ULBS, der über die theo-logischen Überzeugungen des 1938 in Algier zur Welt gekommenen und 1996 während eines Bombenattentats im algerischen Bürgerkrieg gestorbenen römisch-katholischen Bischofs Pierre Claverie referierte. Eine „nonviolente Theologie“, für die Dr. Adnane Mokrani wirbt? Für die islamische Regierung Algeriens im Krieg mit der landeseigenen Bevölkerung keine Option. Aber eben auch nicht für das katholische Frankreich als vormalige Kolonialmacht.

Dazulernen auch im Westen

„Dialog ist nicht die Suche nach der Pax Romana. Er ist die Suche nach der Mystik in mir und dir“, hat einmal der weltweit gereiste orthodoxe Mönch Andrei Scrima (1925-2000) gesagt, über dessen schriftlichen Nachlass Mihai-Iulian Dancă als römisch-katholischer Theologe aktuell ein Promotions-Studium an der ULBS bestreitet. Laut Andrei Scrima könne Dialog schließlich auch verletzen, doch erst die Bereitschaft, selber Verletzung davonzutragen, mache zum Dialog fähig. Ordensschwester Margareta Gruber wusste Samstag, am 10. September, in Hermannstadt eine spannende Episode aus der Biografie von Chiara Lubich zu erzählen: Papst Paul VI. (1897-1978) sandte seinerzeit die Gründerin und lebenslange Präsidentin der Fokolar-Bewegung auf Reise nach Istanbul zu Verhandlungen mit dem ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, und die Delegierte hätte noch im Flugzeug auf der Rückreise kurz vor der Landung in Rom deutlich gespürt, wegen der intensiven Begegnung mit dem Gesprächspartner in der Metropole am Bosporus „ihr Katholisch-Sein verloren“ zu haben.

Dr. Mohammad Ali Shomali aus dem Iran beteiligte sich in Online-Zuschaltung an der Forschungsprojekt-Tagung „Mystical Theology and Muslim-Christian Dialogue“ und „kann nicht erklären, wie der Glaube an den gemeinsamen Gott zu messen ist. Ich ignoriere nicht die Differenzen, aber in Gottes Licht können wir sie mit liebevollem Herzen sehen.“ Für ihn, der nicht nur an der Universität von Teheran abendländische Philosophie studiert, sondern im selben Fach auch an der University of Manchester promoviert hat, ist es „ein Problem der Theologie“, wenn „Menschen unterschiedlicher Religionen an ein und denselben Gott glauben und Theologie das nicht erklären kann.“

Zum Schluss etwas Imperiales

Otto von Habsburg (1912-2011), ältester Sohn des letzten Kaisers von Österreich und Ungarn, nannte 2005 in einem Interview für „Kirche in Not“ – es ist in voller Länge auf YouTube unter der Überschrift „Das christliche Fundament Europas“ nachverfolgbar – die drei „Kraftzentren“ um das Mittelmeer: Europa, Maghreb und Maschrek. „Ich würde ja eines Tages davon träumen, dass da eine Konföderation zwischen diesen dreien gemacht wird. Aber das ist sehr weit in der Zukunft.“ Katholik Otto von Habsburg war davon überzeugt, dass christliche Kriegsgewinner auch die Meinung ihrer Unterlegenen einzuholen hätten. Und die Muslime wüssten „mehr über uns als wir über sie“.

Mitten in Hermannstadt, wo vor sechs Wochen die Verständigung zwischen Christen und Muslimen konfliktfrei über die Bühne ging, – weil auf intellektueller Ebene geführt – sagte Forscher Dr. Florin George Călian, der Gesprächspartner des Interviews „Nicht jeder Spezialist ist auch ein Intellektueller“ in der ADZ von Mittwoch, dem 23. Februar 2022, er habe einer „coincidentia oppositorum“ zugehört.