Das einzige gute Übermaß

Ignaz Bernhard Fischer, Temeswar

Symbolfoto: Pixabay.com

Während des Zweiten Weltkriegs geriet ein amerikanischer B-17-Bomber, eine „fliegende Festung“, durch eine Explosion an Bord in Brand. Die Besatzung konnte mit dem Fallschirm abspringen. Nur der Pilot blieb im brennenden Flugzeug gefangen. Sein Fallschirm war durch die Explosion zerstört. So musste er an der englischen Küste eine Notlandung versuchen. Die Instrumente der Maschine waren ebenfalls beschädigt und die Bomben an Bord konnten jeden Augenblick hochgehen.
Im Dunkel der Nacht gelang es dem Piloten, notzulanden und das brennende Flugzeug unverletzt zu verlassen. Die herbeigeeilten Journalisten erklärten: „Der Mann hat ein unwahrscheinlich großes Glück gehabt!“ Der Pilot aber sagte: „Der Mann da oben, der hat mir zur Landung verholfen. Ich habe viel mit Ihm geredet, und Er hat mir geantwortet!“

Ein Mensch, der in große Not geraten ist, betet, denn „Not lehrt beten!“. Gott, „der Mann da oben“, antwortet nicht mit Worten, sondern mit Taten. Sie sind die Sprache Gottes, die jeder Mensch verstehen kann. Wir begreifen, dass Menschen, die in eine aussichtslose Lage oder gar in eine Todesgefahr geraten sind, zum Gebet als letztem Hoffnungsanker greifen. So haben es auch die zehn Aussätzigen im Lukasevangelium gemacht. Sie wandten sich in ihrer hoffnungslosen Lage an Jesus. Seine Antwort war die Heilungstat. Sie konnten nun wieder in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren. Man müsste meinen, sie hätten danach ihren Heiler mit Dankesworten geradezu überschüttet. Nur einer von den zehn Männern bedankte sich.

Offenbar ist die Dankbarkeit eine seltene Blume im Garten der Menschenherzen. Sonst wäre ja das Sprichwort „Undank ist der Welt Lohn“ nicht entstanden. Wollte man alle Undankbarkeiten, deren wir Menschen uns schuldig machen, aneinanderreihen, das gäbe eine Kette, die länger wäre als die Flugbahnen der Weltraumfahrer. Wahr spricht der Dichter: „Der feine Knabe sagt unfeinen Dank, der in den Brunnen spuckt, aus dem er trank!“
Sicherlich danken auch wir Gott, wenn wir aus einer großen Gefahr heil davonkommen oder eine lebensgefährliche Krankheit überstanden haben. Aber sollen wir nur bei solch extremen Ereignissen Gott danken? Es ist für uns doch viel, viel besser, wenn wir von solchen Unglücksfällen verschont bleiben. Die meisten von uns bleiben verschont. Sollten wir da nicht jeden Abend, wenn wir den Tag gut überstanden haben, Gott dafür danken? Es ist doch eine weit größere Wohltat, vor Unglücksfällen bewahrt zu werden, als sie mit Angst durchleben zu müssen. Um im Evangelium zu bleiben: Es ist doch besser, vom Aussatz überhaupt nicht befallen, als von ihm geheilt zu werden. Der Gesunde hat viel mehr Grund, Gott zu danken, als der von Krankheiten Geheilte.

Wie steht es mit unserer Dankbarkeit? Ist sie so kurzzeitig wie die des Mandrobulus? Die alten Griechen erzählen, dass dieser Mann der Göttin Juno versprochen habe, ihr jährlich ein Lamm aus Gold als Dankgabe zu bringen, wenn sie ihm helfe, einen Schatz zu finden. Er fand den Schatz. Im ersten Jahr brachte er ein Lamm aus Gold als Dankopfer. Im zweiten Jahr war es nur aus Silber, im dritten Jahr aus Erz, im vierten Jahr aus Blei und im fünften blieb der Altar leer. Für solche Fälle kreierten die Griechen das Sprichwort: „Der Dank des Mandrobulus!“

Dieser Mandrobulus hat auch in unserer Zeit viele Nachahmer. Als wir in Russland als Deportierte waren, versprachen viele, sie werden als Dank an Gott für eine glückliche Heimkehr ein eifriges Glaubensleben führen. Sie werden jeden Tag beten, jeden Sonntag in die Kirche gehen und die Sakramente empfangen. Anfangs waren sie auch eifrig. Mit der Zeit kühlte der Dankeseifer immer mehr ab. Dann blieb er ganz aus. 
Seien wir keine Mandrobulusdanker. Die Gesundheitsexperten sagen, der Mensch soll mäßig leben, denn jedes Übermaß sei schädlich. Das stimmt, aber mit einer Ausnahme: Das Übermaß an Dankbarkeit ist das einzig gute Übermaß, das wir bis ans Lebensende auskosten dürfen.