Das Ende der nordischen Neutralität

Nur Finnland liegt zwischen Schweden und Russland. Das Land mit etwas über zehn Millionen Einwohnern ist Mitglied der EU, aber nicht der Nato – bislang.
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Paulina Neuding verfasst Leitartikel für die schwedische Tageszeitung Svenska Dagbladet und ist Kolumnistin für die dänische Tageszeitung Berlingske.
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Während der gesamten Zeit des Kalten Krieges fungierte die Devise „im Frieden bündnisfrei, im Krieg neutral“ nicht nur als Schwedens Sicherheitsdoktrin, sondern prägte auch die nationale Identität und das Selbstverständnis der Schwedinnen und Schweden mit. Doch die russische Invasion in der Ukraine könnte diese traditionelle Haltung der Bündnisfreiheit ins Wanken bringen und Schweden und Finnland  wohl veranlassen, einen Antrag auf Nato-Mitgliedschaft zu stellen.

Erst am 8. März, also zwei Wochen nachdem der russische Präsident Wladimir Putin seinen Krieg gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hatte, erklärte die schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson von den Sozialdemokraten, dass ein Antrag auf Beitritt zur Nato „in der gegenwärtigen Situation (...) diesen Teil Europas weiter destabilisieren und die Spannungen erhöhen würde.“ In zahlreichen Mitte-Rechts-Kommentaren wurde ihr postwendend vorgeworfen, Putins Ansichten zu akzeptieren, wonach die Entscheidung eines souveränen Staates, der Nato beizutreten, als Provokation gegen Russland zu werten sei.

Radikale Kehrtwende

Allerdings deuten starke Signale aus den Reihen der Sozialdemokraten mittlerweile darauf hin, dass Schweden schon auf dem Gipfeltreffen der Allianz im Juni in Madrid einen Antrag auf Nato-Mitgliedschaft stellen könnte. Die Haltung Schwedens in Sicherheitsfragen hat sich bereits radikal geändert. Die Regierung hat der Ukraine Waffen geliefert, und die schwedische Öffentlichkeit hat begonnen, nach Bombenschutzräumen und Jodtabletten zu googeln.

Auch die Pro-Nato-Entwicklungen im benachbarten Finnland beeinflussen die schwedische Sicherheitsdebatte. Finnlands Verwundbarkeit gegenüber der Sowjetunion und später gegenüber Russland war lange Zeit ein wichtiger Grund für die schwedische Bündnisfreiheit, da die Politik davon ausging, Finnland würde unter die Kontrolle des Kremls fallen, wenn Schweden der Nato  beiträte. In den letzten Jahren hat Schweden massiv in die Sicherheitszusammenarbeit mit Finnland investiert.

Als Andersson im April in Stockholm mit der finnischen Ministerpräsidentin Sanna Marin zusammentraf, betonten die beiden Regierungschefinnen, dass jedes der beiden Länder zwar unabhängig, aber doch in enger Absprache mit dem jeweils anderen über den Nato-Beitritt entscheiden werde. Marin versprach eine Entscheidung Finnlands innerhalb weniger Wochen, während das schwedische Parlament Mitte Mai einen Bericht vorlegen will, in dem es seine Position hinsichtlich der Nato-Mitgliedschaft des Landes darlegen wird. Es sollte niemanden überraschen, wenn die beiden nordischen Staaten gemeinsam vorgehen.

Für Schweden handelt es sich bei Bündnisfreiheit und Neutralität nicht nur um bewährte Tugenden; man ist sich auch bewusst, dass diese Politik dem Land während der Kriege des 20. und frühen 21. Jahrhunderts gute Dienste geleistet hat. Freilich entsprach die Realität nicht immer der Rhetorik. Während des Zweiten Weltkriegs war Schweden nicht wirklich neutral, sondern machte gegenüber Nazi-Deutschland erhebliche Zugeständnisse. Kurz nach dem Krieg kam Schweden Forderungen des Kremls nach, indem es  – neben anderen beschämenden Beschwichtigungsaktionen – Soldaten aus den baltischen Staaten an die Sowjetunion auslieferte.

Verborgenes Bündnis

Während des Kalten Krieges allerdings unterhielt Schweden durch umfassende geheime Kooperation ein „verborgenes Bündnis“ mit der Nato. Diese Politik stand in krassem Widerspruch zur offiziellen Rhetorik, die das Land in einer Position der Mitte zwischen zwei gleichermaßen verwerflichen Mächten – der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten – darstellte. Unter Olof Palme, von 1969 bis zu seiner Ermordung im Jahr 1986 Chef der Sozialdemokraten und zweimaliger Ministerpräsident, wurde die Nato als bedrohliches „Atombündnis“ abgetan. Doch obwohl sich Palme öffentlich als antiamerikanisch präsentierte, betonte er privat, dass die Zusammenarbeit mit der Nato fortgesetzt werden müsse.  

Palmes offizielle Sicherheitsdoktrin erlangte nach seinem Tod in Schweden eine Art Heiligenstatus, und seine Haltung hat den schwedischen Auslandsdienst lange Zeit beeinflusst. Im Wahlkampf 2010 forderten die Sozialdemokraten unter Berufung auf die alte Bedrohung durch die „Atomallianz“, dass die „USA ihre Atomwaffen und Militärbasen außerhalb ihrer Landesgrenzen aufgeben sollen.“
In der Praxis hat Schweden jedoch die Neutralität aufgegeben und sich immer weiter von der Bündnisfreiheit entfernt. Als Mitglied der Europäischen Union seit 1995 unterhält das Land enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zu den anderen Mitgliedsstaaten. Seit 2009 ist Schweden an die EU-Solidaritätsklausel gebunden, im Rahmen derer Mitglieder verpflichtet sind, anderen EU-Ländern im Falle eines bewaffneten Angriffs zu helfen – wenn auch nicht unbedingt mit militärischen Mitteln.

Schweden hat auch seine Zusammenarbeit mit der NATO schrittweise vertieft und ist nun (ebenso wie Finnland) ein so genannter Enhanced Opportunity-Partner. Das Land ist Teil der Partnerschaft für den Frieden, hat Truppen zu internationalen Operationen unter Nato-Flagge entsandt und nimmt an den Militärübungen des Bündnisses teil. Vor allem aber ist die schwedische Verteidigungsplanung im Falle eines Krieges in hohem Maße auf Hilfe von außen angewiesen.

Frage der Verteidigungsfähigkeit

Die Neutralitätspolitik Schwedens im Kalten Krieg erforderte starke Verteidigungskräfte und somit Militärausgaben von bis zu 4 Prozent des BIP. Das Land unterhielt die viertgrößte Luftwaffe der Welt und war in der Lage, fast die gesamte männliche Bevölkerung im militärfähigen Alter innerhalb weniger Tage zu mobilisieren. Obwohl Schweden seinen militärtechnischen Vorsprung seit Ende des Kalten Krieges beibehalten konnte, haben die faktische Abschaffung der Wehrpflicht und die Verlagerung des Schwerpunkts des Militärs auf Auslandseinsätze die Verteidigungsfähigkeit des Landes geschwächt. Die Wehrpflicht wurde allerdings vor Kurzem wieder eingeführt, und die schwedische Heimwehr wurde nach Beginn der russischen Invasion mit Bewerbungen überschwemmt.

Die schwedischen Verteidigungsausgaben belaufen sich derzeit jedoch nur auf 1,3 Prozent des BIP. Im Jahr 2013 räumte der damalige militärische Oberbefehlshaber Sverker Göranson öffentlich ein, dass Schweden einem Angriff „etwa eine Woche lang“ standhalten könne. Dann müssen wir Hilfe von anderen Ländern erhalten.“ Erst nach Beginn des Ukraine-Krieges kündigte Andersson an, dass die schwedischen Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent des BIP steigen würden.

Obwohl Schwedens Verteidigungspläne in erheblichem Maße von der Unterstützung anderer Länder abhängen, kommt das Land nicht in den Genuss der in Artikel 5 des Nordatlantikvertrags verankerten Garantie für kollektive Sicherheit. Und die russische Aggression scheint lediglich vor den Grenzen von Nato-Vollmitgliedern Halt zu machen, nicht jedoch vor Partnern des Bündnisses wie der Ukraine und Georgien.

Mehrheit für Nato-Beitritt

Die schwedische Öffentlichkeit hält die Partnerschaft mit der Nato für nicht mehr ausreichend. Der am 1. Januar 2022 gestellten Frage, ob Schweden einen Antrag auf Nato-Mitgliedschaft stellen sollte, stimmten 34 Prozent der Schweden zu und 37 Prozent lehnten dies ab. Mitte April waren 47 Prozent dafür und nur 28 Prozent dagegen. Und 59 Prozent waren der Meinung, Schweden solle der Nato beitreten, wenn Finnland dies tut, während sich nur 17 Prozent dagegen aussprachen. Anfang Mai ergab eine Meinungsumfrage zum ersten Mal eine Mehrheit (51 Prozent) für eine Nato-Mitgliedschaft. Angesichts dieses Sinneswandels ist zu erwarten, dass Schweden seine Farce rund um Neutralität und Bündnisfreiheit ein für alle Mal beenden wird.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier