Das gemeinsame Haus Europa muss unsere gemeinsame Heimat sein

Festrede zum 9. Hessischen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation und dem Tag der Heimat 2022 (18. September, Schloss Biebrich, Wiesbaden)

 

 

Wir gedenken heute der Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation. Der Zweite Weltkrieg hat außer den an der Front Kämpfenden oder der Zivilbevölkerung, die zu Hause unter Bombenterror litt, auch andere zahlreiche Opfer verlangt -  kurz vor oder nach Ende des Krieges:  In Schlesien, Pommern, im Sudetenland wurden die Deutschen vertrieben. Viele kamen auf der Flucht um. Über diese wurde seitens der Schlesier oder Sudetendeutschen hier schon oft gesprochen. Ich komme aus Siebenbürgen und werde über das Schicksal der Rumäniendeutschen sprechen.Anfang August 1944 näherte sich die Rote Armee der rumänischen Grenze. Nordsiebenbürgen, inklusive das Nösnerland mit deutscher Bevölkerung, gehörte nach dem Wiener Schiedsspruch zu Ungarn und wurde von Horthy regiert. Die sich zurückziehende deutsche Wehrmacht beschloss, dass die Siebenbürger Sachsen aus dieser Gegend um Bistritz/Bistri]a und Sächsisch-Reen/Reghin in 48 Stunden mit dem Notwendigsten nach Westen zu fliehen haben. Das geschah zu Fuß oder im besten Fall mit Pferdewägen.  Die Züge waren für die Soldaten reserviert. Man musste also schleunigst das Lebensnotwendige zusammenpacken und sich auf den Weg machen. Das geschah unter äußerst schwierigen Bedingungen. Die Flinkeren schafften es bis Oberösterreich und konnten dort bleiben, weil dort inzwischen die Amerikaner das Sagen hatten. Diese „Zugeroasten“ hatten es aber auch einige Jahre sehr schwer, bis sie akzeptiert wurden und sich integrieren konnten. Das sind die heutigen Siebenbürger Sachsen in Österreich, bzw. deren Nachkommen. Die weniger Flinken schafften es nur bis Wien, Niederösterreich, oder ins Burgenland. Diese Gebiete kamen unter sowjetische Herrschaft und diese weniger Flinken wurden nach Hause zurückgeschickt. Das waren die einzigen offiziellen Flüchtlinge aus Rumänien.

 

Für die Rumäniendeutschen, die nie vertrieben wurden, begann ihr Trauma erst im Januar 1945 mit der Deportation in die sowjetischen Arbeitslager. Die gesamte arbeitsfähige deutsche Bevölkerung, d.h. die Männer zwischen 18 und 45 Jahren  und die Frauen zwischen 17 und 35 Jahren wurden eingesammelt, in Viehwaggons gepfercht und die meisten in die Kohlenbergwerke in den Donbass geschickt. Es war eine Kollektivschuld, nur wegen ihres deutschen Namens, so dass sogar Antifaschisten unter ihnen waren. Die Bedingungen dort waren äußerst hart: sibirischer Winter, karges Essen, Ungeziefer und schwerste Arbeit. Viele starben vor Hunger, Kälte oder bei Arbeitsunfällen. Andere wurden bloß schwer krank und wurden nach Hause geschickt. Das waren die wenigen Glücklichen. Die meisten mussten bis fünf Jahre ausharren und kamen dann 1949/1950 zurück – physisch und psychisch für ihr Leben gezeichnet.
Die meisten von ihnen kamen nach Hause, wo inzwischen der Kommunismus installiert war: Alles war enteignet (Grund und Vieh auf dem Dorf, Geschäfte, Apotheken usw. in der Stadt), sogar im eigenen Haus hatte man Zwangsuntermieter und die Hausbesitzer mussten sich nicht selten in die Sommerküche oder in den Schuppen zurückziehen. Einige zogen aus der UdSSR deshalb direkt nach Deutschland, wo damals auch noch kein Wirtschaftswunder blühte, oder einige wenige wagten den Sprung nach Übersee – in die USA oder nach Kanada.
Eine zweite Deportation erfolgte dann Anfang der 50er Jahre im Banat. Tito wurde von Stalin als Abtrünniger betrachtet und die Deutschen im Banat, an der jugoslawischen Grenze, als potenzielle Verräter. Diese mussten Haus und Hof verlassen und wurden etwa 500 Kilometer weit in die Bărăgansteppe deportiert. Dort hatten sie nur den freien Himmel über sich. Sie mussten sich selbst dürftige Lehm- oder Strohhütten bauen, um sich vor Regen und praller Sonnenglut zu schützen.

All dieser Opfer wird auch in Rumänien gedacht – auch wir als Demokratisches Forum der Deutschen in Rumänien, auch die rumänische Zivilgesellschaft, auch unser Staat tun das. Es geht dabei auch um finanzielle Entschädigung. Die direkt Betroffenen erhalten seit 1990 eine entsprechende monatliche Zusatzrente. Seit relativ kurzer Zeit bekommen auch ihre Kinder – sowohl in Rumänien als auch im Ausland lebende – eine monatliche finanzielle Entschädigung und seit sehr Kurzem auch die Stiefkinder der Deportierten. Sicher können diese finanziellen Entschädigungen, egal wie groß diese sind, das Leid, das vor über 70 Jahren geschah, nicht ersetzen, aber es ist eine Geste, eine Geste des Staates, der juristischer Nachfolger des kommunistischen ist und der damit sich zum begangenen Unrecht bekennt.

Heute, nach so vielen Jahren nach dem Krieg, sind wir in Rumänien wieder mit Flüchtlingen konfrontiert, mit einigen 100.000 Ukrainern und Ukrainerinnen, die vor dem Krieg  geflüchtet sind. Auch der Staat, auch die Zivilgesellschaft, auch der Einzelne helfen. Sie haben Unterkunft und Verpflegung, die Kinder gehen in die Schule oder in den Kindergarten, medizinische Versorgung ist für sie gratis. So wie die Generation meiner Eltern im Donbass oft von einfachen ukrainischen Bauern eine Suppe oder ein Stück Brot erhielten, so hat sich das Rad der Geschichte jetzt gedreht. Die jetzige Generation der Flüchtlinge aus Kiew oder Odessa wird in ganz Europa aufgenommen und die einzige Schwierigkeit ist oft nur die Sprache. Auch bei uns können nur wenige Ukrainisch oder wenigstens Russisch. Die große Solidarität der Menschen in ganz Europa kann aber die Kriegsgreuel nicht annulieren. Leider!

Meine Damen und Herren,Sie feiern heute auch den Tag der Heimat. Aber was bedeutet Heimat? Eine der schönsten Umschreibungen der Heimat kann man bei Wieland nachlesen:

„Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
sei immerhin unscheinbar, unbekannt,
mein Herz bleibt doch vor allem dir gewogen,
fühlt überall zu dir sich hingezogen,
fühlt selbst im Paradies sich noch aus dir verbannt”

Gottfried Keller schreibt im „Fähnlein der sieben Aufrechten“: „Achte jedes Mannes Vaterland, aber das deinige liebe!” Andererseits sagten die alten Römer vor etwa 2000 Jahren: „Ubi bene, ibi patria“ (Wo es mir gut geht, da ist mein Vaterland). Der Begriff Heimat wurde also relativiert, d.h. mit anderen Worten, man könnte überall eine Heimat finden.

Für die Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben, die vor Jahrzehnten ausgewandert sind, gilt aber eher das, was Thomas Mann seinem Bruder Heinrich zum 70sten Geburtstag sagte: „Wo die Heimat zur Fremde wird, da wird die Fremde zur Heimat“. Unter dem Kommunismus ist für viele unserer Landsleute die Heimat zur Fremde geworden und sie haben sich eine neue Heimat gesucht und gefunden – die meisten hier in Deutschland. Es wird oft von der alten und der neuen Heimat gesprochen. Man kann eine Wahlheimat haben, sich da sehr wohl und geborgen fühlen, vollkommen integriert sein, aber mit der Heimat ist es wie mit der Mutter: Es gibt nur eine!

Wir sind zurzeit noch nur knapp 40.000 Deutsche, die in der Heimat leben, das entspricht einem Stadtviertel von Wiesbaden. Aber wir machen uns trotzdem bemerkbar. In Hermannstadt/Sibiu haben wir seit 2000 ununterbrochen deutsche Bürgermeister und 16 Jahre lang die absolute Mehrheit im Stadtrat – in einer Stadt mit etwa 165.000 Einwohnern und weniger als 2000 Deutschen. Das ist meines Erachtens eine Sache für das Guinnessbook of Records!

Wir stellen zurzeit im zweiten Mandat den Staatspräsidenten. So wie unser Altbischof Klein einmal gesagt hat: „Sachsen werden nicht gezählt, sie werden gewogen...“  Wir versuchen nicht nur, unser reiches Kulturgut zu bewahren, unsere deutschsprachigen Schulen weiter auf demselben Niveau zu halten, weiter die einzige deutschsprachige Tageszeitung in Südost-Europa herauszugeben, wir versuchen auch, über den eigenen Tellerrand hinaus zu sehen.

Wir leben in einem gemeinsamen Haus – Europa, in dem wir letztendlich alle nur noch Minderheiten sind. Dieses Haus ist zur Zeit nicht gerade ein trautes Heim, da von verschiedenen Krisen geschüttelt. Der Klimawandel bringt uns weltweit immer öfter böse Wetterkatastrophen, die Energiekrise lässt uns einen kalten Winter befürchten, die Inflationsspirale dreht sich weiter, die Covid-Pandemie ist noch nicht endgültig besiegt, der Krieg in der Ukraine ist sein Ende betreffend unabsehbar, an der Außengrenze Europas warten Flüchtlinge aus Asien und Afrika auf eine Bresche in der Grenze, in den meisten europäischen Ländern schwelen nationalistische und antieuropäische Bewegungen, die aus dem Osten gesteuert werden und die sogar zum Brexit geführt haben. Es werden Terror und Angst geschürt, es gibt Interessen zwischen den Hausbewohnern, die zum Teil auseinander driften.

Deshalb muss sich dieses gemeinsame Haus auf seine Grundwerte besinnen, die Ideale von Coudenhove-Kalergi, Schumann und Adenauer verwirklichen, eine gemeinsame Wirtschafts- und Außenpolitik entwickeln, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Dieses gemeinsame Haus muss unsere gemeinsame Heimat sein, für die wir uns alle einsetzen müssen, in Ost und West, gerade jetzt in diesen Krisenzeiten, wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen!