Das Leben nach der Flucht

Taxifahrer Ioan Chirilă lebt seit über 20 Jahren in Wien

Ioan Chirilă vor seinem Wiener Taxi

Blick auf einen Teil der DonauinselÂ

Sogar an regnerischen Tagen, wie dem  heutigen, bietet Wien vom Donauturm aus gesehen, malerische Augenblicke. Jährlich steigen 400.000 Besucher in 150 Meter Höhe, um die österreichische Hauptstadt von einer der zwei Aussichtsterassen oder aus den zwei drehbaren Panorama-Restaurants zu bewundern. Einer der 400.000 jährlichen Besucher ist der rumänische Taxifahrer Ioan Chirilă und er bringt immer jemanden mit. „Ich bin kein Fremdenführer, aber wenn mir etwas gefällt, empfehle ich das gerne weiter“, sagt Chirilă.
Für den 52 Jahre alten Taxifahrer hat der Donauturm, „ein Wunder der Technik“, eine besondere Bedeutung. Gerade mal fünf Jahre alt war Chirilă, als der Turm 1964 zur Wiener Internationalen Gartenschau feierlich eröffnet wurde. Und er lebte damals im kommunistischen Rumänien, bei Piatra Neam]. Er wuchs in der festen Überzeugung auf, dass sich das Leben anderswo abspielt. In der freien Welt, hinter dem Eisernen Vorhang.
Trotzdem heiratete Chirilă bei Piatra Neamț, hat  eine Tochter  und arbeitete in einer Abteilung für Schneiderei und Schusterei bis Freitag, den 4. Dezember 1987. An den Tag kann er sich heute noch, von Wien aus, exakt erinnern. Gegen halb vier-vier am Morgen verließ er den Heimatort mit einem Freund in einem Auto und fuhr nach Hatzfeld.
Den Fluchttag hatte sich Chirilă genau überlegt: Mitte Dezember sollte Ceaușescu nach China fahren und Tage vor der Präsidentenreise wurde die Grenzwache normalerweise verdoppelt. „Ich habe Ceaușescu gezeigt, wie man das Land richtig verlässt“, lacht Chirilă und schaut vom Donauturm aus auf die Wolkenkratzer der Wiener UNO-City. Das Bild der Stadt verändert sich und die Menschen auch.

Bis 2008 fand alljährlich im November der Donauturm-Treppenlauf statt. Die 776 Stufen des Turms wurden am schnellsten in drei Minuten und 19 Sekunden erstiegen. Heutzutage gilt das Treppensteigen nicht mehr als Extremsport, deswegen gibt es nun auf dem Donauturm eine Bungee-Sprunganlage in 152 Meter Höhe. Die eigene Flucht ins Ausland beschreibt der Taxifahrer als „95 Prozent Wahnsinn“, obwohl er sich auf die Wahnsinnstat vier Jahre lang vorbereitet hatte. 13 Kilometer am Tag lief er entlang des Bistrița-Ufers bis zum Bahnhof und zurück.
Parallel dazu nahm Chirilă Kontakt mit Personen auf, die ihm Informationen über die Flucht geben konnten. So erfuhr er, dass am Samstag Morgen bis nach drei Uhr am Nachmittag der Grenzstreifen bei Stamoram-Oravița größtenteils unbewacht ist, weil die Grenzer Verwaltungsarbeiten zu erledigen hatten. Auch verriet ihm ein ehemaliger Grenzsoldat, dass man am besten im Winter flüchten sollte. Im Sommer habe es nämlich Fallen im Gras gegeben, in die man hineinfallen konnte und Feuerwerkskörper, die durch eine gespannte Schnur abgeschossen wurden. Im Winter waren die Gräben leicht sichtbar und die Lunte der Feuerwerkskörper oft nass, sodass ein Auslösen nicht möglich war.
In einer Gruppe, wie damals üblich, wollte Ioan Chirilă nicht flüchten, weil er sein Schicksal nicht fremden Händen anvertrauen wollte. Seine Fluchtpläne hielt er jahrelang für sich, nur seine Mutter wusste davon, denn, so Chirilă „meine Mutter war und ist meine Seelsorgerin”. Von ihr bekam er vor der Flucht ein Kilogramm Walnusskerne, dazu nahm er noch fünf Tafeln Schokolade mit auf den Weg. Sein Fluchtkollege hatte ebenfalls Schokolade mit. Das Auto ließen sie an einem Straßenrand bei Stamora-Oravi]a zurück, robbten durch Schnee und über gefrorene Felder, schliefen tagsüber in den Gräben neben den Wegen und liefen nachts den Eisenbahnschienen folgend der Freiheit entgegen.
Am achten Dezember 1987 kamen sie schließlich an der österreichischen Grenze an. Außer einer ernsten Unterkühlung und Wunden an den Fußsohlen waren beide Flüchtlinge wohlauf. Sie stellten sich der Polizei und wurden ins Flüchtlingslager Traiskirchen gebracht, 20 Kilometer entfernt von Wien. Dort wurden sie von anderen Flüchtlingen unterrichtet, nicht anzugeben, dass sie in Österreich bleiben wollen, damit sie politisches Asyl bekommen. Sie gaben also an, nach Australien bzw. in die Vereinigten Staaten flüchten zu wollen. Chirilă blieb aber bis heute in Wien.
Er wurde vom Arbeitsamt in einen Deutschkurs geschickt und sieben Monate lang lernte er die Landessprache. Insgesamt habe er sechs Stufen absolviert, „bis zur Grammatik”, dann wurde es unerträglich, aber immerhin reichte das für seinen ersten Job als Hilfsarbeiter. Mit dem Geld, das er beiseite gelegt hatte, kaufte er seine Frau und seine Tochter von der Securitate ab. Chirilă arbeitete anschließend als Lagermeisterhilfe und im Botendienst eines Pharmaunternehmens und machte den Taxischein. Je besser es der Familie Chiril² finanziell ging, desto schlechter ging es ihr privat. „Als wir in Rumänien in Armut lebten, verstanden wir uns besser als hier im Westen, im Wohlstand”, erinnert sich Ioan Chirilă bitter. Es kam zur Scheidung, Frau und Tochter fuhren weiter in die Vereinigten Staaten.

Doch der Ort, an dem Ioan Chirilă sein Gleichgewicht findet, ist stets der Donauturm. Von hier aus sieht er alle schönen Plätze, für die es sich lohnt, in Wien weiterzumachen. Hier die Donauinsel, da die innere Stadt, drüben der Kahlenberg. Inzwischen hat Ioan Chirilă zum zweiten Mal geheiratet. Claudia heißt seine Frau und kommt aus Karansebesch/Caransebeș. Zusammen haben sie zwei Kinder, Iulian, acht,  und Lorian, zwei Jahre alt. Über die Zustände in Rumänien weiß die Familie Chirilă wenig, die Eltern sind Siebenten-Tags-Adventisten, deswegen wird selten fern gesehen.
Ioan Chirilă hat aber als Taxifahrer viele rumänische Stammkunden. Außerdem steckt er seit einiger Zeit im Krankentourismus-Netzwerk. „Viele Rumänen lassen sich in Wien behandeln, weil die Krankenhäuser in Rumänien so schlecht ausgestattet sind”, sagt Chirilă. Und nur die wenigsten können sich auf Deutsch verständigen. Deswegen ruft Chirilă für sie bei Ordinationen an, legt Termine fest, übersetzt für die Ärzte, wacht sogar an Krankenbetten. Aber bezahlt wird er nur fürs Taxifahren, denn „es ist nicht korrekt, vom Leiden anderer reich zu werden”.
Wer in Wien in ein blaues Audi-A6-Avant-Taxi steigt, hat große Chancen, den Rumänen Ioan Chirilă als Taxifahrer zu erleben. Und wer schon einmal in Rumänien Taxi gefahren ist, wird von diesem Treffen überrascht sein. „In Rumänien sind die Taxifahrer bloß Kutscher”, erklärt Chirilă, „in Österreich sind wir außerdem Schlepper, Fremdenführer, Übersetzer und zur Not sogar Seelsorger”. Auf dem Weg vom Flughafen Schwechat in die Innenstadt zeigt Ioan Chirilă irgendwann nach links, in Richtung Handelskai: „Dort drüben”, strahlt er, „gibt es den Donauturm!”