Das Primat  der Freiheit

Wissen zu wollen, wie es wirklich war, ist nach jahrzehntelangen Propagandalügen und Geschichtsklitterung nationalkommunistischer Prägung ein Grundbedürfnis. Das betrifft Einzelschicksale wie auch die Gemeinschaft in der Evangelischen Kirche Rumäniens. Erst nach schrittweiser Öffnung der Securitate-Archive konnte in wissenschaftlichen Arbeiten festgestellt werden, dass im Fall des Kronstädter Schriftstellerprozesses eben kein Verrat aus den eigenen Reihen Gefängnisurteile ermöglicht hat. Erst nach einem halben Jahrhundert führten Recherchearbeiten auch zur Gewissheit, dass der frühere evangelische Bischof eben kein „roter“ war und nicht insgeheim mit der Securitate paktiert hat. Für viele Betroffene kam jene Erkenntnis zu spät, um ihren Seelenfrieden zu finden.

Ende Oktober ist ein wichtiger Zeitzeuge verstorben: Verhandlungsführer Hans Günther Hüsch ist tot. Über zwei Jahrzehnte lang folgte er im Kalten Krieg dem Primat der Freiheit - Freiheit über alles. Im Auftrag der deutschen Bundesregierung tat er das, was westliche Staaten im Wettbewerb der Systeme nur zu gerne auch bei Dissidenten und politisch Gefangenen anderer Ostblockländer unternahmen: Er verhandelte Ablösesummen für Menschen, damit sie fortan in westlicher Freiheit ihr weiteres Leben gestalten konnten. Plakativ eta-blierte sich der Begriff „Freikauf“. Doch war man damit wirklich befreit?

Offiziell war es eine länderübergreifende „Familienzusammenführung”.  Insbesondere von kommunistischer Seite kaschierte man diese Maßnahmen als Kompensationszahlungen für die staatlich geleistete Ausbildung: unqualifizierte Arbeiter, Facharbeiter, Akademiker - jeder Mensch hatte seinen Preis. Menschenhandel durfte man das nicht nennen, da jener spätestens seit 1949 von der UN-Generalversammlung weltweit geächtet war. Und: Jene Menschen gingen per Eigenantrag freiwillig, viele versuchten den Vorgang mit Schmiergeldzahlungen zu beschleunigen. Doch wie frei war ihre Entscheidung tatsächlich? Und was geschah mit zurückgelassenen Familienhäusern und als „patrimoniu” deklarierten Kunstgütern? 

Etliche ethisch-rechtliche Fragen sind noch offen. Die wissenschaftliche Aufbereitung steht noch an. Hannelore Baier, Expertin im Studium von Securitateakten, stellt in ihrem Nachruf über Hans Günther Hüsch in der ADZ abschließend fest: „Das Kapitel Familienzusammenführung birgt aber noch Geheimnisse.“

Fragen, ob dieser Freikauf das Ableben des deutschen Gemeinschaftslebens in Rumänien begünstigt hat, sind obsolet. Nicht das Schlupfloch in der Gefängnismauer ist das Problem, wenn sich der Innenraum leert. Viel eher gilt es zu erfahren, wie frei war man in seiner Entscheidung, sein Heimatland zu verlassen und wie frei war man tatsächlich, nachdem man es verlassen hat. Sind damalige staatliche Benachteiligungen durch Wiedergutmachungen gemildert worden? Welche Verantwortung ging die Bundesrepublik Deutschland diesen neuen Bürgern gegenüber im Rahmen eines sog. Lastenausgleichs, der Alterssicherung und hinsichtlich des Kulturerhaltes ein und für wie lange? 

War das Primat der Freiheit gerechtfertigt, ihm alles andere unterzuordnen oder gar schrittweise zu vernachlässigen?

Diese Frage geht in ihrer Bedeutung über die zahlreichen Einzelschicksale hinaus: Wie Staaten mit kleinen Bevölkerungsgruppen umgehen, wie sie deren frühere Benachteiligungen wieder gut machen, ihrer Verantwortung Minderheiten gegenüber in der Alltagspraxis fortwährend gerecht werden - all das ist ein Gradmesser für gesellschaftliche Chancengleichheit und sozialen Frieden. Natürlich kann man die Vergangenheit ruhen lassen. Aber dann läuft man Gefahr, wieder zum Spielball internationaler Politik zu werden.