Das Private ist politisch

Es tut mir leid.  Ich weiß, das ist nun nicht mehr von Bedeutung. Aber ich meine, ich habe wirklich alles getan.Ich glaube, jeder würde mir darin zustimmen.

Unseren Dialekt habe ich auch nach der Auswanderung gesprochen. Und jeden Freitagabend bin ich zur Probe in die Tanzgruppe gegangen. Die Landeskundeseminare habe ich mit organisiert und Geschichtsbücher gelesen, die es früher daheim nicht zu kaufen gab. Ich war damit beschäftigt, das Richtige zu tun.

Unser Brauchtum und unsere Landeskunde habe ich auch nach Anas Bekanntschaft gepflegt. Ana, mit einem, statt mit zwei N. Sie kam ja mit, zu unseren Treffen, zu unseren Wochenendseminaren. Sie war damit beschäftigt, das Richtige zu tun. Wenn sie gefragt worden ist, woher sie denn komme, erzählte sie von ihrer sächsischen Oma und damit war alles gesagt.

Aber als nach der Hochzeit das Kind da war, da haben wir nicht mehr versucht, das Richtige zu tun und es tut mir ehrlich leid. Wir lehrten unser Kind keinen Dialekt. Wir tauften das Neugeborene weder nach dem Ritus der Mutter, noch nach jenem des Vaters. Wir fuhren mit ihm ans Meer und nicht in die alte Heimat. Die Geschichten von Oma und Ota über von früher interessierten das Enkelchen nicht und was sie Gutes kochten, es schmeckte ihm nicht. Alles war umsonst.
Es ist eigentlich unentschuldbar. Das ist mir nun klar. Ich weiß nicht, warum es mir schwer fällt, das zuzugeben. Aber so kam es nunmal, dass Ana ging und mit ihr das Kind ohne Oma, ohne Ota. Ich habe angekämpft. Ich bin nicht sicher, ob das einen Sinn hatte. Ich habe mir immer für Kind und Eltern alles gewünscht. Es tut mir leid.

Wie verlockend wäre es da, in eine Welt zurückzukehren, in der alles einfacher war und die Wirklichkeit vermeintlich besser aussah als heute - so erzählt man sich doch. Ja, früher erzählte man sich Geschichten, um die Hoffnung nicht zu verlieren, Geschichten, um zu leben. Doch heute, wo wir frei leben, halten uns die gleichen Geschichten gefangen. Man hat sich so sehr an sie gewöhnt, dass man gar nicht merkt, dass sie einen einschränken.
Gerade weil große Veränderungen zu verkraften sind, hält man unwillkürlich an den alten Geschichten fest und damit an ihren Gewissheiten, selbst wenn klar ist, dass sie nicht mehr zutreffend sind. Daran festhalten, selbst wenn klar ist, dass man sich damit von vielen Mitmenschen abschottet.

Wer mit allen wirklich zusammenleben will, wer wirklich Brücken bauen will, muss innere Abschottungen öffnen und Menschen zuhören, denen man bisher nicht wirklich zugehört hat. Sie helfen, den Blick von der Vergangenheit abzuwenden, ohne sich davon zu lösen, aber davon befreit sich selbst verwirklichen zu können. Tut man es nicht, führt es am Ende zu Leid - und zwar bei allen Betroffenen. Das ist keine Privatangelegenheit und von Bedeutung.