Das Subsidiaritätsprinzip: Die Quantität fragt nach der Qualität

Wort des Ehrenvorsitzenden Prof. Dr. Paul Philippi in der Vertreterversammlung des DFDR am 28.10.2011

Verehrte Delegierte unserer Foren,

während wir uns heute versammeln, geht in ganz Rumänien langsam die Volkszählung zu Ende. Wir haben uns Mühe gegeben, die Deutschen Rumäniens auf diese Erhebung richtig einzustellen. Wir haben erfahren, dass bei der Erhebung auch fragwürdig verfahren worden ist; was zu erwarten war. Daher ja unsere Bemühung, möglichen Fehlern vorzubeugen. Mit den Ergebnissen der Volkszählung werden wir uns auseinandersetzen – und leben müssen.

Wir haben manchmal gesagt, dass es uns als Minderheit im Lande mehr auf die Qualität ankommt als auf die Quantität. Aber wir wissen, dass die Quantität in einer Demokratie ein oft entscheidendes Gewicht hat. Ich versuche aus beiden Überlegungen – Qualität und Quantität – ein paar Folgerungen zu ziehen:

Zuerst zwei Selbstverständlichkeiten: Wir werden in Rumänien nicht flächendeckend in Erscheinung treten können und auch nicht wollen. Schon darin unterscheiden wir uns von den politischen Parteien. Es sollte uns, denke ich, daran liegen, schwerpunktmäßig Profil zu zeigen, um an Schwerpunkten Respekt zu erwerben – bzw. Respekt zu behalten. Wo es uns gelungen ist, in den verfassungsmäßigen Organen Bürgermeister, Gemeinderäte zu stellen, werden wir, so hoffe ich, wie schon bisher durch Qualitätsarbeit auffallen, so, dass ein Defizit an Quantität nachrangig wird.

Qualität – auch hinsichtlich demokratischer Korrektheit. Das gilt natürlich auch für unsere Vertreter in der Regierung und im Parlament – und hat sich dort entsprechend bewährt und bewiesen. Wofür wir unseren Repräsentanten Dank und Anerkennung schulden. Und es gilt natürlich in erster Reihe auch für die Arbeit in unseren Foren: Guter Ruf durch demokratische Korrektheit.

Sodann: Wir werden uns im Lande wohl auch in Zukunft nicht zur ganzen Breite politischer Sachverhalte zu Wort melden, sondern uns möglichst auf die Sachgebiete konzentrieren und uns die Sachinitiativen vorbehalten, für die wir besonders zuständig sind.

Und nun ein dritter Hinweis: Unser Abgeordneter hat uns in seinen Verlautbarungen, die wir in der ADZ hoffentlich sorgfältig lesen, wiederholt auf die Relevanz des Subsidiaritätsprinzips hingewiesen, das in Rumänien noch nicht sehr heimisch ist, das aber in der EU Geltung hat und für uns als zahlenmäßig kleine Minderheit von großer Bedeutung ist. Weil das Subsidiaritätsprinzip besonders für unsere Zukunft wichtig ist, sollten wir alle darüber Bescheid wissen, um auf allen Ebenen darauf Bezug nehmen zu können. Ich erlaube mir darum, heute einiges dazu zu sagen.

Vor bald 50 Jahren habe ich an der Heidelberger Universität meine Probevorlesung über eben das Subsidiaritätsprinzip gehalten. Damals, in den 1960-er Jahren, ging es hitzig um die Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Nur Professor Karl Kurt Klein von der Universität Innsbruck, der vorher in Jassy und Klausenburg Professor gewesen war, der merkte sofort, dass ich heimlich ein Thema der Minderheitenpolitik meiner Heimat behandelt hatte. Wieso? Was sagt das Subsidiaritätsprinzip?

Das Subsidiaritätsprinzip wurde 1931 vom römischen Papst formuliert in der Enzyklika Quadragesimo anno. Pius XI. hatte es vom deutschen Jesuiten Heinrich Pesch übernommen, der wieder hatte es vom evangelischen Berliner Professor Adolph Wagner gelernt, welcher im Bismarck-Reich das „Gesetz der wachsenden Staatstätigkeit“ formuliert hat und letztlich weist das Prinzip zurück auf Wilhelm von Humboldt und den gemäßigten Französischen Revolutionär Honoré comte de Mirabeau. Also ein ganz europäisch verwurzeltes Prinzip: Katholisch/italienisch,  evangelisch/deutsch,  liberal/ französisch.

Was besagt es? Das Subsidiaritätsprinzip hat zwei Pole. Zuerst der negative Pol. Wörtlich: „Es verstößt gegen die Gerechtigkeit das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinschaften (communitates) leisten ... können, für die weitere und übergeordnete Gesellschaft (societas) in Anspruch zu nehmen.“

Klartext für uns: Was innerhalb unserer Minderheit geleistet werden kann, darf der Staat nicht an sich reißen. Mirabeau fordert „de se mettre en garde contre la fureur de gouverneur“: Die Gesellschaft soll Abwehrstellung beziehen gegen den Furor des Zentralstaates, der alles an sich zu ziehen bestrebt ist. Das Subsidiaritätsprinzip will die Staaten verpflichten, den pluralen Gemeinschaftskräften innerhalb des Staates einen Vorrang einzuräumen vor dem Direktzugriff der Zentralmacht. Das heißt für uns: Was wir als Minderheiten in eigener Zuständigkeit leisten können, darf nicht der Staat für sich beanspruchen – z. B. die Errichtung und Verwaltung von Altersheimen. (Aber das würde auch für Waisenhäuser, Schulen u.v.a.m. genauso gelten).

Zweitens der positive Pol, wieder wörtlich: „Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen ... nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen (lateinisch: subsidium afferre), darf sie aber niemals ... aufsaugen.“ Dieser Satz verpflichtet den Staat als „übergeordnete Gesellschaft“, die „untergeordneten Gemeinschaften“ in ihren Fähigkeiten und Kompetenzen so zu unterstützen, dass sie das, was sie betrifft, selbstständig unternehmen und leisten – also die Gemeinschaftsbildung, die Sorge füreinander, die Selbstvertretung. Der Staat soll das nicht an sich ziehen.

Indem dieses so verstandene Subsidiaritätsprinzip in der ganzen EU Geltung beansprucht, gibt es auch den nationalen Minderheiten oder den Kirchen das Recht und fast den Auftrag, soziale Kompetenzen in Anspruch zu nehmen und zu entwickeln – sofern sie den Willen und die Fähigkeit besitzen, solche Kompetenzen auch praktisch wahrzunehmen. Und das Subsidiaritätsprinzip verpflichtet den Staat, solche Inanspruchnahme von Kompetenzen nichtstaatlicher Gemeinschaften zu honorieren – sofern bei diesen die Fähigkeit zur Einlösung einer solchen Inanspruchnahme besteht.

Die Durchsetzung und Entfaltung dieses Subsidiaritätsprinzips ist im europäischen Recht nur langsam vorangeschritten. Ebenso langsam wie die juristische und politische Zurkenntnisnahme nationaler Minderheiten überhaupt, sofern  die als Gruppen kollektive Rechte beanspruchen. Frankreich z. B. und Griechenland, die behaupten, keine nationalen Minderheiten zu haben, tun sich auch mit dem Subsidiaritätsprinzip schwer. Rumänien hat seine nationalen Minderheiten anerkannt, tut sich aber – als ein an Frankreich orientierter Staat – mit dem Subsidiaritätsprinzip ebenfalls schwer. Aber die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entwickelt sich minderheitenfreundlich. So stellt sich für uns perspektivisch die Grundsatzfrage, für wie viel Gemeinschaft innerhalb des Staates wollen wir kompetent zu sein den Anspruch erheben? (Um dann für welchen gesellschaftlichen Bereich auch wirklich verantwortlich zu sein?!)

Die Volkszählung mag unsere Quantität so klein oder so groß erscheinen lassen, wie es denn herauskommt. Das Subsidiaritätsprinzip fragt uns letztlich nach den inneren Bindekräften, nach  Substanz und Qualität unseres Zusammenhalts. Je nach dieser Kraft können wir als Minderheit im Ganzen und erstrecht als regionale und lokale Gemeinschaften gemäß dem Subsidiaritätsprinzip Rechte und Pflichten beanspruchen gegenüber dem Staat und im Staat. Die Existenz unseres Forums als „politische Formation“ ist bereits so eine globale Inanspruchnahme von Rechten und Pflichten. Aus der Qualität unseres regionalen und lokalen Zusammenhalts kann sich dann ergeben, was wir uns jeweils vornehmen, vor Ort auch zu beanspruchen.