Dass du  sie bewahrst  vor dem Bösen

Jesus betet für seine Jünger: 
Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, 
sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen.
Johannes 17, 15

Es kommt gar nicht so selten vor, dass Überlebende von Katastrophen Schuldgefühle haben. Sie fühlen sich schuldig, weil gerade sie überlebt haben: „Wa-rum hat es meinen Mann/meine Frau/mein Kind/meine Schwester/meinen Bruder/... erwischt und nicht mich?“ Dahinter steht: „Warum hat es nicht mich getroffen, warum bin ich noch hier?“ Nach verheerenden Erdbeben, nach Lawinenabgängen, nach Autounfällen, im Krieg. Und oft kommt der Wunsch dazu: „Hätte es doch mich getroffen. Dann wäre ich nicht mehr hier und müsste mir all dies Leid und Elend, all die Zerstörung nicht mehr ansehen, sie nicht mehr aushalten, nicht mit all dem leben.“

Im Februar ans Meer. Das wollte ich vor einem Jahr, in der ruhigen Nebensaison und mit länger werdendem Tageslicht. Ein paar freie Tage Ende Februar hatte ich ins Auge gefasst. Und dann kam die Zerstörung über die Ukraine, unser Nachbarland. Ein brutaler Angriffskrieg, der nichts anderes als Vernichtung und Auslöschung im Sinn hat. Unvorstellbar und plötzlich mit aller Wucht da. 

„Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt nimmst“, betet Jesus in seinem Abschiedsgebet, bevor er selbst ausgeliefert und getötet wird. Lass sie, meine Freundinnen und Freunde, drin in der Welt. In dieser Welt mit all ihrem Leid und all ihrem Leben, mit all ihrer Dunkelheit und all ihrem Licht. Lass sie vertrauen statt verzweifeln, stärke sie auf ihren Wegen.

Vor einem Jahr, in der Schockstarre nach dem Großangriff auf die Ukraine, in der Ohnmacht und in den ersten Versuchen, zu helfen, zu unterstützen und sich dem Vernichtungswillen zu widersetzen, merkte ich, wie wichtig die Arbeit von Künstlerinnen und Künstlern ist. Street Art, Graffiti, Gedichte, Musik, eine Installation neben oder auf den Trümmern – um das einigermaßen zu fassen, was da passiert. Oder wie in den letzten Tagen: Luftballone, die in der Erdbebenregion der Türkei und in Syrien an die Trümmer gebunden werden. Kerzengerade, mit Helium gefüllt. Oder Iryna, eine Kerzendesignerin aus Kiew, die seit fast einem Jahr in der Nähe von Hermannstadt lebt. Und arbeitet. Kerzen in der Form von Herzen stellt sie her – und zwar in der anatomischen Form von Herzen. In einem tiefen Rot stehen diese Kerzen da, rot wie Blut, beinahe so, als würden sie pulsieren.

„Dass du sie bewahrst vor dem Bösen.“ Auch das betet Jesus. Er weiß um die Kraft und um die Macht des Bösen. Er ist selbst versucht worden in der Wüste, als er 40 Tage und 40 Nächte fastete. Und er weiß auch um Gottes Kraft, die Kraft seines Vaters, die es braucht, um zu bestehen, um sich dem Bösen zu widersetzen. 

In diesem Jahr im Februar bin ich nun ein paar Tage am Schwarzen Meer gewesen, habe die Ruhe genossen und das Meeresrauschen. Die Wellen, die am Sandstrand ankommen, verbinden Länder und verbinden auch all die lebensfördernden, kreativen Ideen. Pulsierend. Der Wind, der über das Wasser geht, lässt sich nicht aufhalten. Die Möwe, die durch die Luft gleitet, fliegt ohne Mühe über menschengemachte Grenzen hinweg. Der Himmel ist offen über uns allen. 

Vor neun Tagen, am Aschermittwoch, hat die Fastenzeit begonnen, mit diesem Evangeliumstext: „Wenn ihr fastet, sollt ihr nicht sauer dreinsehen wie die Heuchler; denn sie verstellen ihr Gesicht, um sich vor den Leuten zu zeigen mit ihrem Fasten.(…) Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit du dich nicht vor den Leuten zeigst mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“ (Matthäus 6, 16–18) Das Gesicht, die Hände und die Füße waschen mit Wasser aus dem Meer, das verbindet. Oder ein Bad nehmen mit Meersalz. Und beten, dass wir, die noch hier sind, vor dem Bösen bewahrt und ihm – im Vertrauen auf Gott – widerstehen werden.