Der Connectivity-Krieg

Die neuen Mittel der Geopolitik lassen die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verschwimmen

Foto: Stephan Roehl

Viele Beobachter haben lange angenommen, die künftige Geopolitik würde in einer Seeschlacht um die Taiwanstraße oder einen kleinen Felsen oder ein Atoll im südchinesischen Meer entschieden. Wir werden aber eines besseren belehrt, wenn wir uns ansehen, wie ein paar tausend verzweifelte Geflüchtete in den geopolitischen Achterwassern des 21. Jahrhundert behandelt werden.

Fangen wir mit dem Ärmelkanal an. Der Ort, an dem einst einige der dramatischsten Konfrontationen in der Geschichte stattgefunden haben – von der spanischen Armada bis zur Landung in der Normandie – ist nicht länger eine Bühne der Großmachtpolitik. Stattdessen hat der Tod von 27 Zivilisten, deren Schlauchboot vor wenigen Tagen nach dem Ablegen von der französischen Küste gekentert war, den Ärmelkanal zum Ort einer humanitären Tragödie gemacht.

Aber anstatt gemeinsam mit Frankreich die Menschenhändler zu bekämpfen spielte der britische Premierminister Boris Johnson sofort für die politische Öffentlichkeit seines Landes und schob in einem auf Twitter veröffentlichten offenen Brief den Franzosen die Schuld zu. Damit hat Johnson nicht ein weiteres kindisches Stück politischer Akrobatik vollführt, sondern seine Amtspflicht verletzt, mit wohl furchtbaren und weitreichenden Konsequenzen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron, der sich im nächsten Frühjahr nach einem Wahlkampf, in dem Migration ein heikles Thema sein wird, zur Wiederwahl stellt, revanchierte sich für Johnsons Rüpelei, indem er die britische Innenministerin von einem Treffen der europäischen Innenminister in Calais auslud. Weil auf beiden Seiten des Ärmelkanals Misstrauen herrscht, glauben beide Regierungen, dass die jeweils andere den Konflikt in einem größeren Machtspiel nutzen will, in dem es um Handel, Verteidigung und Außenpolitik geht.

In Westeuropa ist Migration zum politischen Fußball verkommen, in einem obskuren Streifen Land zwischen Belarus und Polen wird sie bereits als Waffe eingesetzt. Obwohl Belarus für Reisende aus dem Nahen Osten kein besonders beliebtes Urlaubsland sein dürfte, hat das Land Migranten aus dem Irak, Afghanistan und Syrien eingeflogen und mit dem Versprechen, sie in die Europäische Union zu bringen, weiter zur Grenze geschleust. Das Motiv des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko ist klar: Er will europäische Regierungen dazu zwingen, die Sanktionen zu lockern, die nach der manipulierten Präsidentschaftswahl im letzten Jahre gegen sein Regime verhängt und später verschärft worden waren, nachdem er ein Flugzeug zur Landung gezwungen hatte, um einen der Passagiere zu verhaften. Lukaschenko bildet sich nicht ein, dass ein paar tausend Migranten reichen, um Polen oder auch nur Litauen zu überschwemmen. Aber er hat verstanden, dass die wichtigsten Schlachten unserer Zeit in den Köpfen der Menschen gewonnen werden. Deshalb versucht er, die Bilder der europäischen Flüchtlingskrise von 2015 wieder auferstehen zu lassen, und setzt die Migranten als Waffe in seinem Informationskrieg ein.

Wie die Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill gezeigt hat, ist Lukaschenko bei weitem nicht der erste, der Migranten als Instrument der Regierungspolitik nutzt. Sie hat über 75 Fälle dokumentiert, in denen Regierungen – etwa in Marokko, Russland, Libyen und der Türkei – Zivilisten mit Zwang vertrieben (oder zur Flucht ermutigt) haben, um ein politisches, militärisches oder wirtschaftliches Ziel zu erreichen. Der Missbrauch von Migranten als Waffe ist inzwischen neben Sanktionen, Informations- und Cyber-Kriegen und der Handels- und Infrastrukturpolitik nur ein weiteres Instrument im Arsenal internationaler Druckmittel.

Vor diesem Hintergrund sind sowohl die belarussische Kampagne als auch die Balgerei um den Ärmelkanal Symptome für ein neues außenpolitisches Umfeld, in dem Kriege durch neue Formen der Aggression ersetzt werden. Die Verbindungen zwischen Menschen und Ländern sind die neue Währung der Macht.

Laut dem berühmte Ausspruch des Militärhistorikers Carl von Clausewitz ist Krieg eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Weil Krieg im atomaren Zeitalter jedoch oft undenkbar ist, muss die Geopolitik mit ganz anderen Mitteln fortgesetzt werden, die ich „Connectivity-Konflikte“ nenne. Das heißt, Regierungen manipulieren genau die Dinge, die Länder miteinander verbinden: Lieferketten, Finanzströme, die Mobilität von Menschen, Pandemien, den Klimawandel und – vor allem – das Internet.

Während die Menschheit in der Pandemie geeint gegen eine Infektionskrankheit kämpft, wird eine andere Pandemie aus den Kulissen absichtlich weiter angeheizt. Toxisches Verhalten wird ansteckend, weil immer mehr Staats- und Regierungschefs den aggressiven Missbrauch der Konnektivität mit gleicher Münze vergelten.

Dieser Teufelskreis dürfte sich nur schwer umkehren lassen, weil Connectivity-Konflikte sich häufig unter einer Wolke aus Heuchelei und glaubhafter Abstreitbarkeit abspielen. Auch wenn ihm das niemand abnimmt, kann Lukaschenko behaupten, die Migranten aus dem Nahen Osten seien aus eigenem Antrieb nach Belarus gereist. Und die EU kann behaupten, ihre Entscheidung, die Zertifizierung für die Pipeline Nord Stream 2 vorerst auszusetzen, die Deutschland direkt mit russischem Gas versorgen soll, hätte nichts mit Politik zu tun, sondern mit rein verfahrensrechtlichen Bedenken.

Weil diese Konflikte informell sind, lässt sich oft nur schwer sagen, warum bestimmte Entscheidungen getroffen werden. Regierungen und Unternehmen haben noch nicht einmal den geeigneten Rahmen gefunden, um ihre eigenen Entscheidungen zu bewerten. Beispiel Migration. Was sollte für Regierung bei ihren Entscheidungen am wichtigsten sein: internationales Recht, die Sicherheit von Menschen oder der eigene Einfluss? Soll Handelspolitik Gewinne maximieren oder die Macht des eigenen Landes? Ist es besser, die Kosten für Verbraucher kurzfristig zu minimieren, oder lokale Erzeuger gegen unfairen Wettbewerb zu schützen (und den Verbrauchern langfristig eine größere Auswahl zu bieten)?

Konnektivität baut Spannungen nicht ab, sondern eröffnet neue Möglichkeiten für Wettbewerb und Konflikte. Kein Wunder, dass die Grenze zwischen Krieg und Frieden immer mehr verschwimmt. 

Tolstoys Welt, in der offener Konflikt und Harmonie abwechselten und beides klar voneinander getrennt war, ist tot. Wir leben in einer Ära des ständigen Konflikts, in der die meisten Kämpfer und fast alle Opfer Zivilisten sind. In dieser von mir „Zeitalter des Unfriedens“ getauften Epoche sind die Verdammten dieser Erde, ohne es zu wissen, zu Kriegsmaterial geworden.


Mark Leonard, der Autor dieses Kommentars, ist Mitbegründer und Direktor des European Council on Foreign Relations. 
Seine neueste Veröffentlichung ist The Age of Unpeace: How Connectivity Causes Conflict (Bantam Press, 2021).