Alles muss in Bewegung sein. „Stillstand ist der Tod“, lautet das Motto auf allen Ebenen. Das Plateau ist nur die Vorankündigung des Falls. Die Achterbahn des Rauf und Runter darf unter keinen Umständen anhalten. Wer nicht bereit und fähig ist, aufzuspringen, der bleibt zurück und ist für lange Zeit, wenn nicht sogar für immer verloren. So zielgesteuert wie heute war die menschliche Gesellschaft noch nie, doch zugleich hat man selten so oft gehört, dass der Weg und nicht das Ziel zählt. Aus lauter Suche nach dem Ziel scheint die Menschheit gar nicht mehr zu wissen, wie dieses aussieht. Es ist immer ein anderes, als das, was man gerade erreicht hat. Vor lauter Zielsuche haben wir neben der Freude am Weg verlernt, das Ziel zu genießen.
Bücher, Bücher, Bücher… aber nicht nur
Das Versprechen des Glücks. Das sich Selbst finden. Das eigene Selbst entdecken und umdefinieren, um es glücksfähig zu machen. Verfolgt man in allen zugänglichen Sprachen der Welt die meistverkauften Buchprodukte, wird man mit Erstaunen feststellen müssen, dass es sich um „Glücksrezepte“ handelt. Wen wird es wundern, dass nach dem dritten Buch, welches man zu diesem Thema in die Hand nimmt, feststellen muss, dass sich alles nur um das Eine dreht: bleib nie stehen, verwandele dich ständig, du kannst nur glücklich sein, wenn du ständig nach Höherem strebst, mach dich auf und bleib ununterbrochen auf dem Weg. Um dieses Konzept herum ist eine Unzahl an Pseudowissenschaften entstanden, die von Unmengen an „Experten“, für entsprechendes Geld meistens, legitimiert werden und die von genauso vielen Verlagen für den sich nicht selbst (er)kennenden Konsumenten in Buchform herausgegeben werden. Als hervorstechendes Beispiel der letzten Jahre kann man die pseudowissenschaftlichen Bücher, Filme und Onlineveranstaltungen von Gabor Mates betrachten. Es gibt nichts auf dieser Welt, was der Kanadier nicht mittels seines Verständnisses von Trauma erklären könnte. Könnte man noch akzeptieren, dass sein populärwissenschaftlicher Ansatz Grundkonzepte der Psychologie einem breiten Publikum zugänglich machen möchte, wird einem beim Untersuchen seiner Onlineangebote schnell klar: es ist nur ein anderes „Glücksrezept“, welches an meine Brieftasche will.
Natürlich findet dieser unglaubliche Druckkonsum seinen Niederschlag auch in der „ernsten“ akademischen Welt. „Publish or perish“ (veröffentliche oder vergehe) heißt die neue Parole. Die meisten Akademiker können ein Lied singen über den Druck, dem sie von ihren arbeitgebenden Studieneinrichtungen ausgesetzt sind, in entsprechend eingestuften und zertifizierten Medien und Verlagen zu veröffentlichen und die damit verbundenen Kosten aus der eigenen Tasche tragen zu müssen. Dem Kampf zwischen den Forschungsansprüchen der Universitäten, um ihr eigenes Ranking zu erhöhen, und dem auf die Unterrichtenden ausgeübten Druck, in anerkannten kostenpflichtigen Medien zu veröffentlichen, muss in einem anderen Beitrag nachgegangen werden...
Die Krönung der Glücksberater sind in der heutigen Gesellschaft die Gattung der sogenannten „Influencer“. Jede „Mieze“, pejorativ aber nicht genderspezifisch gemeint, – der Begriff ist, um einen genauso zeitgenössischen Begriff zu bemühen: genderfluid –, die sich gerade aus dem Laden an der Ecke ein Paar neue Jeans gekauft hat, ist scheinbar befähigt, uns zu erklären, was uns zum Glück fehlt und was wir tun oder vor allem kaufen müssen, um glücklich zu sein, denn siehe da, er oder sie hat es getan und ist glücklich... natürlich nur bis zum Haarschnitt am nächsten Tag, welcher das eigentliche Glück verkörpert, an welchem wir dann auch teilhaben dürfen. In nicht länger als zwei bis drei Minuten wird uns das wichtigste Was und Wie auf Instagram oder TikTok erklärt. Als Gegenentwicklung seien die professionellen (Video-)Postcast erwähnt, die mit ihrer Dauer von zwei bis vier Stunden eine andere Qualität mit sich bringen, wobei die Dauer nicht als absolutes Kriterium gelten darf.
Wir schaffen es zusammen
Kommt man dem Glück auf persönlicher Ebene nicht näher, darf man nicht verzweifeln. Glücklich kann man auch als Gesellschaft werden. Hier halten Politiker ihren Einzug: Jeder Politiker und jede Politikerin ist ein Besserwisser und Bessermacher, der nur aus lauter Nächstenliebe den schwierigen und ach so undankbaren Weg der Politik eingeschlagen hat. Die auf persönlicher Ebene erreichten Qualifikationen und Erfolge bringen eine Weitsicht mit sich, die dem Otto-Normalverbraucher, der sich ja noch auf der Suche nach der eigenen Verwirklichung und dem damit verbundenen Glück befindet und dafür noch Bücher zu lesen hat, gar nicht zugänglich ist. Es wird von Makro und Mikro geredet, von kurz-, mittel- und langfristig, von dem Aufstieg, der erzwungen werden muss, um den Abstieg zu vermeiden, welcher seinerseits von dem bestehenden Stillstand angekündigt wird. Die Zukunft, so erklären sie uns, kann nur rosarot sein, wenn sie nicht schwarz wird und sollte sie schwarz werden, dann können nur sie diese in rosarot umwenden. Dazu befähigt sie meistens auch ihre akademische Laufbahn. Auch über ihrem Kopf hängt das Damokles-Schwert des „Publish or die“. Und veröffentlicht haben sie. Alle. Oder fast alle. Entweder seitenlanges nichtssagendes Bla-Bla oder aber, und das sind nur bösartige Stimmen, die so etwas in die Welt setzen, haben sie erfolgreich abgeschrieben. Perfektes Beispiel dazu: es gibt keinen anderen Bereich in Rumänien, in dem so viel akademische „Intelligenzia“ zusammenkommt wie im Parlament. Die Anzahl der vorhandenen Doktortitel aus den verschiedensten Sparten der wissenschaftlichen Forschung dürfte so manchen Vorsitzenden renommierter Universitäten vor Neid platzen lassen. Wer anders als sie könnte wissen, wie das Glück auszusehen hat? Sie wissen es und wollen es mit beiden Händen ausschütten.
Die Abkürzung?
Es gibt aber in unserer Gesellschaft noch einen kürzeren Weg zum Glück. Er ist nur einen Knopfdruck entfernt. Also: man mache es sich gemütlich auf der Couch und schalte den Fernseher ein. Dabei meide man die Nachrichten, ohne sie könnte es in der Welt doch so friedlich zugehen, und die Sportsender – Gott bewahre, die Lieblingsmannschaft verliert und dann ist alles schon den Bach runtergegangen. Man konzentriere sich auf das, was in der Fachsprache kommerzielle Sender genannt wird. Dort wird man schon nach fünf Minuten von so viel Glück berieselt, dass man sich fast in einer perfekten Welt glaubt. Strahlende, sich auf dem Weg ins Glück befindende Personen mit nach Maß gebauten Körpern zeigen vor laufenden Kameras den sie bewundernden Zuschauern wie auch sie das Glück verkörpern können. Denn sie und ihr Leben sind mit dem Glück so eins geworden, dass alles, was ihnen noch zuteil wird, nur noch die Kirsche auf dem Sahnehäubchen sein kann. Natürlich sind sie am glücklichsten darüber, dass ihnen jemand zusieht, wie sie ihr Glück zur Schau stellen, es wäre doch zu traurig, die in Couchpolster versunkene Menschheit nicht an ihrem Glück teilhaben lassen zu können. Und während vor einem alles glitzert und flimmert, hat man den Eindruck, das man den Weg zum Glück gefunden hat und der ist gar nicht schwer, man muss ihn nicht gehen, es reicht, vor der Flimmerkiste zu liegen und sich in dem ausgestrahlten Glück zu sonnen.
Und wenn die Glückseligen dann schweigen, erklären Werbespots im gleichen Ton, was Glück ist. Es ist greifbar nahe und kommt in vielen Formen: der Burger, die Zahnpaste, der Wischmop, das Auto, das Spülmittel (man hat fast Mitleid mit den Einwohnern von Vilabacho, die das falsche Spülmittel benutzen und es nicht schaffen, nicht das ganze Geschirr zu spülen, wie unglücklich sie doch sein müssen...), die Versicherung, das Fertiggericht, die Rasierklinge... Eine so breit gefächerte Rezeptur des Glücks, dass für jeden etwas dabei ist.
Die goldene Gans und Kant
Ehrlicherweise muss man gestehen: es gibt genügend Stimmen, die in die Welt schreien, dass der Kaiser nackt ist. Doch wer will sich einem derartigen Defätismus aussetzten, wenn man an den Federn der goldenen Gans klebt, dabei auf dem Weg ins Glück ist, im Bewusstsein, der Weg sei das Ziel. Wie viele an den Federn der Gans kleben, kann man leicht erkennen, wenn man kurz in den sozialen Medien verweilt. Sie sprudeln über an Zitaten über die Definition des Glücks und seine Erscheinungsformen. Motivationssprüche, auf idyllischen Bildern platziert, wollen uns in Bewegung setzen, das so greifbar nahe Glück zu erhaschen. Die Welt der sozialen Medien ist voller glücklicher Menschen, die anderen glücklichen Menschen dieses mittels mehr oder weniger gestellten Bildern demonstrieren. Sie sind alle so glücklich, dass sie es in die Welt hinausposaunen müssen, weil sie so viel Glück kaum alleine ertragen können. Und dabei sind sie schon auf dem Weg zur nächsten Stufe des Glücks, welche sie im nächsten Bild zur Schau stellen werden.
In diesem ganzen Weg-Ziel-Glück-Gebilde hat man manchmal den Wunsch, eine unsichtbare Hand würde der Menschheit Immanuel Kants Sapere-aude-Text um die Ohren knallen. „Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ heißt es dort im ersten Absatz. Vielleicht kann man den Text heute auch so deuten: Habe Mut, auf deinem Weg innezuhalten und das zu genießen, was du gerade bist. Es könnte sich sogar wie Glück anfühlen.
In diesem Sinne will ich es jetzt hier auch ruhen lassen, mir wie der längst verpönte Marlboro-Cowboy eine Zigarette anstecken und für eine Zeit lang gedankenlos den Blick in die Ferne schweifen lassen. Es kann und darf manchmal auch einfach ruhig und still sein.