„Der Schritt ins Ungewisse“

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Struwwelpeter Boris hat ihn getan, den Schritt in Richtung Komme-was-da-wolle! Nicht gerade mit jener Unbekümmertheit, die seinen Ruf begründet: Er ließ durch seinen Finanzminister Sajid Javid die Abfederungssumme für die Kosten des EU-Austritts Großbritanniens von 2,1 auf 4,2 Milliarden britische Pfund verdoppeln. Und – eine Präventionsmaßnahme – rund eine Milliarde davon für Schottland, Wales und Nordirland beiseite legen, für welche die Auswirkungen des Brexit wohl am härtesten sein dürften. Zudem reservierte er gemeinsam mit seinem Finanzminister für diverse Maßnahmen zur Absicherung des Krankenhaussystems und der Krankenbetreuung (bis hin zur Anlegung von Vorratslagern mit diversen Medikamenten) 434 Millionen Pfund. Man darf also davon ausgehen, dass der britische Regierungschef sehr wohl das Worst-Case-Drehbuch durchspielen ließ und an finanzielle Abfederungsmechanismen gedacht hat, die diesen britischen „Schritt ins Ungewisse” (so das regierungsnahe Institut for Government, IfG) mildern sollen. Die Überzeugung des Alexander Boris de Pfeffel Johnson, einem Urenkel des letzten Innenministers des Osmanischen Reichs (bezeichnend, dass gerade der Finanzminister in der ersten Regierungsphase des neuen Downing-Street-10-Bewohners öffentlich eine so große Rolle spielt): „Wenn wir keinen guten Deal bekommen, dann müssen wir ohne gehen.” Es zeichnet sich eine klare Neigung ab in Richtung „Ohne” - in London wird momentan darauf hin gearbeitet.
Bei Struwwelpeter-Boris – er ist schon der 15. britische Premierminister unter Königin Elisabeth I - muss aber morgen nichts so sein, wie heute angekündigt. Er ist bekannt für seine außerordentliche „Flexibilität” im Denken und im Handeln. Als der politische Werbekrieg um den Brexit begann, war der ehemalige Brüssel-Korrespondent britischer Zeitungen in der Anfangsphase strikt dagegen (mit dem Argument, Großbritannien könne sich wirtschaftlich keinen Brexit leisten), kurz darauf aber „bedingungslos dafür” - und das voller Inbrunst und als Wortführer. Er tat sich hervor durch öffentliche Fakenews, wie: „Wir schicken der EU wöchentlich 350 Millionen Pfund!” 

Viele wären von Boris Johnson überhaupt nicht überrascht, wenn er knapp vor November d. J. das Handtuch wirft, falls sein No-Deal-Brexit sich als Katastrophe für Großbritannien abzeichnen sollte. Als Profi des politischen Opportunismus würde er dann mit irgendeiner lustigen Erklärung für sein Handeln daherkommen, die vergessen lassen soll, was er angerichtet hat. Schließlich haben die Tory-Wähler ihn seinem Kontrahenten Jeremy Hunt nicht vorgezogen, weil er besser und kompetenter wäre als der Ex-Außenminister (der bei seinen Werbungen um die Gunst der Konservativen mit Analysen und Daten brillierte, ein Bereich, in dem Boris J. nie mithalten konnte), sondern weil er kurzweiliger ist... Und sein Nach-dem-Wind-Winden kann als Chance gesehen werden: „Er tut fast immer das Gegenteil dessen, was er anfangs verspricht!”, heißt es beim Vorgänger Tony Blair, den Atlantico zitiert. Laut Blair sind die harten Erklärungen gegenüber der EU, mit denen Boris J. sein Mandat eröffnete, bloß eine Verhandlungsstrategie. Ähnlich wie es Griechenland unter Tsipras versucht hatte. Man erinnert sich: Tsipras hat nachher Wort für Wort die EU-Empfehlungen umgesetzt... Der Unterschied: Boris Johnson sieht sich einem feindlichen Parlament gegenüber und verfügt nur über eine einzige Mehrheitsstimme. Seine Strategie könnte der britischen Innenpolitik gegolten haben, nicht der EU. 

Seitens der EU gilt nach wie vor die starre Haltung des Chefunterhändlers Michel Barnier, der „keine Nachverhandlung” will, und wenn, dann ohne Kompromisse. Auch die EU hat eine große Verantwortung beim Brexit zu schultern. Sie kann es unmöglich zu einem Bruch kommen lassen. Die EU-Starrheit führte zum Fall der Theresa May - eine Lehre. 
Aber war die EU je lernfähig?