Deutschland im Wandel?

Eine eigentümliche Veranstaltung im Matthias-Corvinus-Kollegium Klausenburg

Matthias Corvinus, Namensgeber des MCC, überblickt die Klausenburger Piața Unirii. Foto: pxfuel

Ende April lud das Matthias-Corvinus-Kollegium (MCC) in Klausenburg/Cluj-Napoca zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Deutschland im Wandel“ – einer Podiumsdiskussion, an der Dr. Alexander Grau und Prof. Dr. Heinz Theisen teilnahmen, Gastdozent bzw. -professor am MCC, sowie Richard Janos Schenk, Doktorand und Junior Visiting Fellow an derselben Institution. Laut Einladung sind „Die Referenten (...) der Meinung, dass sich der deutsche Meinungsmainstream stark nach links verschoben hat, während liberale oder konservative Denkweisen umgekehrt oftmals eine neue Bedeutung gefunden haben.“ Eine Diskussion also, bei der die Teilnehmer sich ohnehin einig sind? Interessant wird das Ganze, wenn man sich den Hintergrund ansieht. 

Das „Matthias-Corvinus-Kollegium“ ist kein Klausenburger Veranstaltungsraum, sondern eine ungarische Bildungseinrichtung. Laut Selbstbeschreibung auf der Website eine „Einrichtung für Talente und Wissenszentrum, das als Bezugspunkt für alle Ungarn dient. Es baut auf Traditionen auf, dient der Gemeinschaft und dem Land und bildet aufgeschlossene junge Menschen mit einer patriotischen Mentalität und einem realistischen Blick auf die Welt aus“. 

Das ARD-Politmagazin „Kontraste“ dagegen bezeichnet das MCC in einem Artikel vom Mai 2022 als „rechte Kaderschmiede“, die im Jahr 2020 von der ungarischen Regierung unter Viktor Orban mit 1,4 Milliarden Euro unterstützt worden sei (dies entspreche etwa dem Budget aller Hochschulen des Landes zusammen) – was auch zur Kritik durch die EU-Kommission geführt habe. Das MCC ist keine öffentliche Universität, es unterhält verschiedene Bildungseinrichtungen und einen Verlag, der ungarische Übersetzungen konservativer bis rechtsextremer Schriften veröffentlicht – etwa von David Engels, der die Abschaffung der Religionsfreiheit und Einrichtung einer Diktatur fordert, von NS-Verklärer Rolf Peter Sieferle oder Klimawandel-Leugner Bjørn Lomborg. 

Viel Lob für Ungarn

Auf die einleitende Frage, wie es nun mit diesem Wandel stehe, erklärte Herr Theisen, dass er diese Frage im europäischen Kontext betrachten wolle, dass Deutschland seit 30 Jahren kaum Geld in die Verteidigung gesteckt habe und daher vollkommen abhängig von den USA sei und es müsse „alle Abenteuer mitmachen, von Afghanistan bis Ukraine“. Diese „Selbstaufgabe“ sei typisch für Deutschland und zeige sich auch bei der mangelnden Grenzkontrolle. Herr Theisen verlieh anschließend seiner Bewunderung für Ungarn Ausdruck und lobte das Land, in dem er aufgrund seiner Tätigkeit im MCC derzeit lebt. Mit dieser ersten Antwort war das Schema gesetzt, nach dem fast alle folgenden Themen behandelt wurden: Ob politische Stabilität, Migrationspolitik oder Pressefreiheit – Deutschland wurde Versagen und eine düstere Zukunft attestiert, Ungarn als leuchtendes Beispiel genannt. Zwar wurde Viktor Orban nicht einziges Mal erwähnt – aber wessen Interessen diese Veranstaltung diente, war auch so offensichtlich.

Auf die Frage, wieso Ungarn in deutschen Medien denn so negativ dargestellt werde, zählte etwa Herr Grau nicht die üblichen Gründe für diese Kritik auf – etwa die systematische Beschneidung des ungarischen Rechtsstaats, die Einschränkung der Presse- und Kunstfreiheit sowie der Minderheiten- und Menschenrechten; rassistische und antisemitische Ausfälle von Amtsträgern, oder die Veruntreuung von EU-Geldern und ausufernde Korruption unter der Regierung Orban. Stattdessen holt Grau zu einem längeren Exkurs zu deutscher Mediengeschichte aus – fast alle deutschen Printmedien sind demnach Produkte der Militärbesatzung durch die Alliierten nach dem 2. Weltkrieg. Auch konservative Zeitungen wie die FAZ seien im Grunde liberal, es gäbe in Deutschland schlicht keine konservative Zeitung – die einzig existierende werde ausgegrenzt: Nämlich die „Junge Freiheit“.

Zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus

„Konservativ“ ist allerdings eine etwas verharmlosende Bezeichnung für diese Publikation: Es gibt zahlreiche personelle Überschneidungen mit der Alternative für Deutschland (AfD), deren Jugendorganisation vom deutschen Verfassungsschutz erst kürzlich als „rechtsextrem“ eingestuft wurde. Nicht nur verschiedene Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bezeichnen die Junge Freiheit als „Scharnier zwischen Konservatismus und Rechtsextremismus“ – zu dieser Einschätzung kam auch der Deutsche Verfassungsschutz im Jahr 2005, der die Publikation über viele Jahre beobachtete bzw. teils noch beobachtet. 

Wenig überraschend steht die Zeitung der Regierung Viktor Orbans wohlwollend gegenüber; erst im vergangenen November wurde ein (ursprünglich in der „Budapester Zeitung“ erschienenes) Interview abgedruckt, in welchem er unter anderem erklärt:  „In Ungarn haben wir hingegen im öffentlichen Dialog eine pluralistische Struktur. Es gibt Liberale und Konservative. Mittels der Medien sind sie im öffentlichen Diskurs nahezu paritätisch vertreten. Die ungarische Gesellschaft ist wesentlich pluralistischer, freier und friedlicher als die deutsche.“ Das Wort „hingegen“ bezieht sich dabei auf Deutschland – denn während die Regierung Orban die Pressefreiheit in Ungarn weitgehend abgeschafft hat, sorgt er sich um dieselbe in Deutschland. Eine kritische Rückfrage des Interviewers gab es aber an keiner Stelle.

Darin lag auch das Problem bei der Diskussionsveranstaltung „Deutschland im Wandel“: Es wurde wenig diskutiert, nachgehakt oder Meinungen mit Fakten konfrontiert. Auch Herr Schenk, dessen Redebeiträge durchaus ein Bedürfnis nach Wissensvermittlung zeigten, erklärte etwa, dass die Drei-Parteien-Koalition in Deutschland sehr schwierig, im deutschen Oberhaus sehr viele Parteien vertreten und alles sei sehr kompliziert sei – die Lage sei eben nicht so stabil, wie man es in Ungarn gewohnt sei. Die Aussagen über Deutschland sind kaum abzustreiten – aber: Was er über Ungarn nicht sagt, ist, dass dessen „Stabilität“ auch darauf beruht, dass die Gesetzgebung zugunsten der regierenden Fidesz geändert wurde, und dass es große Zweifel an der Rechtmäßigkeit ungarischer Wahlen der letzten Jahre gibt.

Realistischer Blick?

Das ist eigentlich längst allgemein bekannt – ob es aber auch Rednern und Publikum im MCC bekannt ist? Oder werden diese Tatsachen von der „patriotischen Mentalität“ ausgeblendet? Zu-mindest gab es kein Murren im Publikum, als etwa Herr Theisen wiederholt den „polit-medialen Komplex“ anklagte, der Deutschland in Wirklichkeit beherrsche, „die einzige Opposition“ AfD und Junge Freiheit (für die er selbst schreibt) ins Abseits dränge und weswegen man vieles gar nicht mehr offen sagen dürfe. Dieses imaginierte Verbot hinderte ihn nicht daran, über „Multikulti (als) das schlimmste überhaupt“ zu wettern – eine gewagte Aussage im seit jeher multikulturellen Siebenbürgen – und zu behaupten, dass seit der Ankunft vieler Kriegsflüchtlinge im Jahr 2015 in Deutschland täglich 22 Messerattacken verübt würden. Beim Versuch, diese Zahl zu verifizieren, stößt man allerdings auf die Information, dass das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) Statistiken zu Messerattacken erst seit dem Jahr 2020 erfasst, es also gar keine belegten Zahlen zur deutschlandweiten Anzahl an Messerattacken seit 2015 gibt. 

Es gab neben diesen teils recht schrillen Äußerungen auch gemäßigtere, Herr Grau etwa verwies zum Ende hin darauf, dass Europa aufgrund seines Reichtums nun mal attraktiv für Milliarden in Armut lebender Menschen sei und kein Grenzschutz dies ändern könne – eine Lösung wäre es, den Wohlstand in diese Länder zu  bringen. 

Insgesamt blieb aber der Eindruck, dass hier von deutschen Wissenschaftlern und Publizisten dieselben Zerrbilder von Deutschland und Ungarn präsentiert wurden, wie sie Viktor Orban in oben genanntem Interview zeichnet – und dass all dies mit dem „realistischen Blick“, den das MCC für sich reklamiert, herzlich wenig zu tun hat.  


Zur Pressefreiheit in Ungarn schreiben „Reporter ohne Grenzen“: 

„Seit Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei 2010 an die Regierung kamen, haben sie die Medien Schritt für Schritt unter ihre Kontrolle gebracht. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk und Ungarns einzige Nachrichtenagentur MTI wurde in der staatlichen Medienholding MTVA zentralisiert. Die regionale Presse ist seit Sommer 2017 vollständig im Besitz Orbán-freundlicher Unternehmer. 2018 wurden fast 500 regierungsnahe Medienunternehmen in einer Holding mit zentral koordinierter Berichterstattung zusammengefasst. Wichtige kritische Medien wurden eingestellt, große Nachrichtenportale in den Besitz Orbán-naher Unternehmer und redaktionell auf Linie gebracht. (...) Wiederholt haben regierungsnahe Medien „schwarze Listen“ unliebsamer Journalistinnen und Journalisten veröffentlicht. 2021 wurde bekannt, dass die Regierung mehrere Medienschaffende mit der Pegasus-Software hat überwachen lassen.“