Die dako-romanische Kontinuität auf dem Prüfstand

Laut Dan Alexe sind die Albaner die wahren Nachfahren der Daker

Wer in diesem Land zur Schule gegangen ist, ob vor 1989 oder danach, wird sich zumindest daran erinnern: Das rumänische Volk ist in den ersten Jahrhunderten nach Christus entstanden, nachdem die Römer die Daker besiegt, ihr Land besetzt und kolonisiert haben. Aus dem Zusammenleben der Daker und der römischen Kolonisten entstand das rumänische Volk, aus dem Vulgärlatein und der kaum bekannten Sprache der Daker das Dako-Romanische und später die rumänische Sprache. Mehr noch, so erzählten es die Geschichtsbücher, diese dako-romanische Bevölkerung blieb auch nach der Aufgabe der Provinz durch das geschwächte Römische Reich um das Jahr 270 stehen, zog sich im 4. Jahrhundert nach dem Einfall der Hunnen in die Wälder und Berge zurück, bewahrte sich die Sprache und den christlichen Glauben und tauchte ein Jahrtausend später wieder auf, als aus dem inzwischen von den Ungarn eroberten Siebenbürgen rumänische Anführer über die Karpaten nach Süden und Osten gingen und die späteren Fürstentümer Walachei und Moldau gründeten.

Kurz gesagt: Die dako-romanische Kontinuität auf dem Gebiet des heutigen Rumäniens gehört zu den wesentlichen Mythen der nationalen Geschichtsschreibung und zu den Hauptkapiteln im Geschichtsunterricht, sie begründet den Anspruch auf eine inzwischen fast zweitausendjährige Geschichte auf demselben Boden und dementsprechend auch das Vorrecht auf Siebenbürgen, das von Rumänen bevölkert war, als sich der ungarische König dieses Land aneignete. Handfeste Beweise für diesen Gründungsmythos? Archäologische Entdeckungen? Spätantike Schriften? Kaum. Das Wenige, das es gab, wurde bereits im 19. Jahrhundert und selbstverständlich im 20. Jahrhundert, vor allem während der nationalistisch-kommunistischen Diktatur, für unantastbar deklariert. Zum absoluten Beweis für eine These, die nur jene anzweifeln konnten, die einer heimlichen Agenda nachgingen, wie die österreichischen Historiker Franz Josef Sulzer und Robert Rösler, die gemeinsam mit ihren ungarischen Kollegen zu Hauptfeinden des Rumänentums und dessen ununterbrochenem Fortbestand erklärt wurden. Man nehme nur zwei Beispiele: Die 1775 in einem Wald bei Birthälm in Siebenbürgen entdeckte, spätantike Votivtafel, jedem rumänischen Schulkind als „Donariul de la Biertan“ bekannt, die zum endgültigen Beweis dafür erklärt wurde, dass im 4. Jahrhundert in Siebenbürgen eine christliche Bevölkerung lebte, die eine dem Lateinischen entsprungene Sprache sprach. Oder der vom byzantinischen Historiker Theophylaktos Simokates festgehaltene Aufruf eines Soldaten während eines byzantinischen Feldzugs gegen die Awaren: „Torna, torna, fratre“, soll der Soldat in der Sprache seiner Eltern gerufen haben, auch wenn sich das Ereignis südlich der Donau, am Fuße des Balkans, zugetragen haben soll. „Torna, torna, fratre“ ist Urrumänisch. Problematisch nur, dass zwischen dem „Torna, torna, fratre“ aus dem 5. oder 6. Jahrhundert und dem Brief des walachischen Kaufmanns Neacșu aus Câmpulung an den Stadtrichter von Kronstadt aus dem Jahr 1521 die Quellen mehr oder minder schweigen. Ja, gewiss, die Rumänen tauchen wieder auf, lange Jahre nach der Bekehrung des ungarischen Stammesführers István zum Christentum, byzantinische und abendländische Historien erwähnen sie am Rande, doch was sie in der Zwischenzeit gemacht haben, wo sie sich herumgetrieben haben, das bleibt ungewiss.

Das bedeutet alles nichts, kein Vorwand gilt. Die Öffentlichkeit hält am Kontinuitätsgedanken fest, so wurde und so wird es an Schulen gelehrt, so wissen es die Behörden, Gründungsmythos bleibt Gründungsmythos. Mittlerweile stellen auch jetzige Politiker in der Provinz Denkmäler für dakische Könige hin, genauso wie man es unter Ceaușescu gemacht hat. An der Krankheit der „Dakopatie“ leiden viele, ob jung oder alt, ob gebildet oder nicht. Und der Birthälmer Votivtafel baute der dortige Bürgermeister auch ein Denkmal, so stand es 2018 in den Zeitungen.

Einer, der seinen Landsleuten diese Krankheit austreiben möchte und sich mit Witz, Charme, Lebenslust und oft beißender Ironie ans Werk macht, ist der 62-jährige Schriftsteller, Sprachwissenschaftler und Journalist Dan Alexe. Aus seinem Brüsseler Exil arbeitet er als Freelancer für den Sender „Freies Europa”, für die Medien der WAZ-Gruppe, den BBC oder den Staatsrundfunk der Republik Moldau. 2014 veröffentlichte er zum ersten Mal ein Buch über die besagte Daker-Manie der Rumänen („Dacopatia și alte rătăciri românești“), 2021 brachte er eine überarbeitete Fassung heraus. 2022 folgte ein Büchlein mit dem Titel „Babel:La început a fost Cuvântul“, das er als eine Einführung in die Linguistik für Laien und gleichzeitig eine Vorbereitung seines vor kurzem im Humanitas-Verlag erschienen Buchs „De-a dacii și romanii. O introducere în istoria limbii și etnogenezei românilor“ sah.

Der Grundgedanke seiner Einführung in die Geschichte der rumänischen Sprache und der Herausbildung der Rumänen, das er mit einer Fülle an linguistischen Argumenten zu erklären und zu beweisen versucht, ist einfach: Nicht die Rumänen sind die wahren Nachfahren der Daker, bzw. der dako-romanischen Bevölkerung der Provinz Dakien, sondern die Albaner. Laut Alexe sind die Rumänen die Nachfahren der romanisierten Bevölkerung der Balkan-Halbinsel, weil ihre Sprache eine deutlich stärkere lateinische Prägung hat als die albanische Sprache und zweifelsohne zu den romanischen Sprachen gehört. Als das Römische Reich die Provinz nördlich der Donau aufgab, ging der Großteil der Bevölkerung über die Donau mit und lebte fortan auf der Balkan-Halbinsel, wo es in Kontakt mit einer Bevölkerung kam, die bereits auf mehrere Jahrhunderte der römischen Besetzung und der entsprechenden Latinisierung zurückblickte. Das sind die Protorumänen. Ein paar Jahrhunderte später gesellten sich die Südslawen hinzu und das Albanische, das Rumänische und das Bulgarische entstanden im gleichen Raum, in einem sogenannten Sprachbund, auf den Gebieten der heutigen Staaten Bulgarien, Nord-Mazedonien und Albanien. Von dort überquerten die Vorfahren der Rumänen irgendwann im 10.-11. Jahrhundert die Donau und siedelten sich im heutigen Siebenbürgen an, von wo sie mit Zustimmung des ungarischen Königs später nach Süden und nach Osten, über die Karpaten, gingen. Das vermuteten auch Sulzer im 18. und Rösler im 19. Jahrhundert. Alexes Buch ist für den Laien geschrieben, er erklärt einfach und präzise, wie sich die rumänische Sprache entwickelt hat und warum es anders kaum gewesen sein konnte.

Ob Alexe Recht hat, bleibe dahingestellt. Jedenfalls stützt er sich auf moderne Erkenntnisse der Sprachwissenschaft und liefert rationale Erklärungen für Entwicklungen, die sich anders nur schwer erklären können. Die Birthälmer Votivtafel, die vielleicht in Nordostitalien geschaffen, von einem einfallenden Barbaren geraubt und nach Siebenbürgen gebracht wurde, reicht da nicht aus. Weitere Beweise sind die Archäologen schuldig geblieben. Das Gute an Alexes Buch und an seinen Ideen ist in diesem Zusammenhang, dass sie an unhaltbaren Mythen rütteln, dass er den Mut, die Zuversicht und die passenden Worte findet, um dem rumänischen Bildungsbürger zu erklären, dass nicht alles so gewesen sein muss, wie er zu glauben gelernt wurde.

Alexe, der die Konfrontation nicht scheut und deshalb bei vielen aneckt, legt sich dabei mit starken, lauten Gegnern an: Er steht schon lange auf der Abschussliste einer großen Koalition: Da sind zum einen die sogenannten Konservativen: der Klausenburger Philologe Adrian Papahagi, der Theologe und Ex-Außenminister Teodor Baconschi, der inzwischen mit Papahagi verstrittene, äußerst dubiose Wendehals Mihail Neamțu oder Sever Voinescu, der etwas verbohrte Chefredakteur einer Zeitschrift, die früher für westlich orientierte Intellektuelle gedacht war und heute zu einem Kulturblatt der Rumänisch-Orthodoxen Kirche geworden ist, um es mit Alexe selbst zu halten. Rumäniens zarte Intellektuellenschicht hält sich seit der Wende für rechts, in den vergangenen Jahren kam auch das Religiös-Nationale hinzu. Von da bis zur Dakopatie bleibt nur noch ein Schritt. Kein großer. Hinzu kommen noch die Kreise um den nationalistischen Historiker Ioan-Aurel Pop und die Rumänische Akademie, der Pop immer noch vorsteht. Politisch eher links, goutieren auch diese Kreise Alexes Buch kaum. Dass der Humanitas-Verlag sein Buch herausgebracht hat, ist unter diesen Umständen an sich schon lobenswert. Alexes Nachricht an diese Leute ist keine gute: Man hat Jahrhunderte gemeinsam mit denen gelebt und man ist mit jenen verwandt, sprachlich zumindest, auf die man stets herabgeblickt hat, denn wenn es in diesem Land schlecht gegangen ist, wo konnte es noch schlimmer gehen? Sicherlich in Albanien und natürlich auch in Bulgarien, diesen Balkan-Staaten, von dem man nichts weiß und auch nichts wissen will. Wandervölker sind das, genauso wie die Ungarn, die hierherkamen, als die Rumänen, im Schutze dichter Wälder und hoher Berge, ihre Sprache und ihren Glauben vor einfallenden Barbaren zu verteidigen wussten, ihrer römischen Herkunft stets bewusst und mit dem Mut der vaterlandsgetreuen Daker gewappnet. Weil Alexe diese Mär aus der Welt zu schaffen versucht, werden sie ihn alle angreifen. Aber das bestätigt nur ein Vorurteil, nämlich dass etwas gut ist, eben weil es so viele Kritiker hat.

Wo das rumänische Volk letzten Endes entstanden ist, ist selbstverständlich Nebensache. Dass er mit gefährlichen Mythen aufräumt und deren Missbrauch einzudämmen versucht, dafür sollte man dem Bohemien Alexe in seinem Brüsseler Kaffeehaus dankbar sein. Nach Lucian Boia, dem Historiker, der inzwischen schon alt ist, aber nach der Wende als erster Tabus gebrochen hat, sehr zum Leid derselben humorlosen Koalition von verkappten Nationalisten, ist Alexe der zweite, der das wirksam tut und dem es gelingt, ein breiteres Publikum anzusprechen. Man gönne es ihm.

 

Zu: Dan Alexe, De-a dacii și romanii. O introducere în istoria limbii și etnogenezei românilor, Humanitas, București, 2023, ISBN 978-973-50-8216-1, 264 S.