Wer durch die Straßen von Temeswar/Timișoara spazieren geht, der sollte hin und wieder auch mal einen neugierigen Blick nach oben werfen, genauer gesagt, auf die Fassaden der historischen Gebäude in der Innenstadt. Viele dieser Fassaden denkmalgeschützter Altbauten sind nicht nur prächtig, sondern auch „lebendig“ – denn daraus „wachsen“ jede Menge Figuren, menschliche wie phantastische. Dahinter stecken oft spannende Geschichten, die mit den ersten Besitzern jener historischen Gebäude in enger Verbindung stehen. Wer die Fassaden aufmerksam betrachtet, dem fällt auf, wie viele Engel eigentlich in Temeswar wachen. Die himmlischen Wächter sind nicht nur auf Kirchenfassaden, sondern auch auf anderen historischen Gebäuden zu sehen.
Spätestens seit dem Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2023 wissen es die meisten: Die Stadt Temeswar in Westrumänien ist eine Stadt mit einer bewegten Geschichte und einer Architektur, die von verschiedenen Epochen und Stilen geprägt ist. Neben ihren prachtvollen Jugendstil- und Barockgebäuden faszinieren besonders jene Bauten, auf deren Fassaden verschiedene Figuren zu sehen sind. Die Fassaden mit Engeln, die oft unbemerkt bleiben, verleihen Temeswar einen ganz besonderen Charme und vielleicht auch eine gewisse spirituelle Tiefe. Zwei der bedeutendsten Gebäude mit Engelsskulpturen sind der Széchenyi-Palast und der Hohe Dom zu Temeswar, doch es gibt auch andere Bauten, auf deren Fassaden Engel unterschiedlicher Art beobachtet werden können.
Der Széchenyi-Palast – ein Juwel am Opernplatz
Mit seiner prunkvollen Fassade zieht der Széchenyi-Palast im Herzen Temeswars alle Blicke auf sich. Er liegt direkt gegenüber der Orthodoxen Kathedrale und gehört zu den markantesten Bauwerken der Stadt. Der Széchenyi-Palast ist einer der ersten Altbauten, die Touristen, deren Stadtführung vor der Orthodoxen Kathedrale beginnt, bewundern können. Wenn man von der Kathedrale Richtung Oper schaut, so befindet sich der Széchenyi-Palast linkerhand.
Der Palast der Széchenyi-Hausbau-Aktiengesellschaft ist das Gebäude, das die monumentale Front von sechs Palästen auf der Ostseite des Opernplatzes, die alle zwischen 1910 und 1913 im Sezessions-Stil erbaut wurden, nach Süden abschließt, heißt es auf der Webseite „Heritage of Timișoara“. Auf dem Giebel über dem Eingang sehen wir ein Flachrelief, das das Motiv eines Engels darstellt – die Figur hält eine Weizengarbe, ein direkter Hinweis auf die Agrarbank, deren Direktor der erste Gebäudebesitzer, Antal Vogel, gewesen ist. Die Agrarbank war eine Aktiengesellschaft, die sowohl die Széchenyi-Hausbau-AG, als auch die Herkules-Ziegelei besaß. Der 1913 fertiggestellte Széchenyi-Palast ist eines der vielen Meisterwerke des Architekten László Székely, die in Temeswar bewunder werden können.
Der Hohe Dom und das Bischofspalais
Der Hohe Dom, auch als Sankt-Georgs-Kathedrale bekannt, ist die bedeutendste römisch-katholische Kirche der Stadt. Das imposante barocke Bauwerk am Domplatz beeindruckt mit seiner kunstvollen Architektur und den reich verzierten Fassaden.
Hier finden sich ebenfalls Engelsfiguren, die den Dom zu bewachen scheinen. Diese Darstellungen stehen im Einklang mit der barocken Tradition, in der Engel als Vermittler zwischen Himmel und Erde eine zentrale Rolle spielen. Die Domkirche wurde zwischen 1736 und 1772 erbaut. Der Autor der Architekturpläne ist unbekannt, jedoch erkennen einige Spezialisten den Einfluss – unter anderem im Bereich der Ornamentik, d. h. auch der Figuren auf den Fassaden – des Wiener Architekten Josef Emmanuel Fischer von Erlach, damals Direktor des Kaiserlichen Bauamtes.
Doch Engel sind auch auf dem Gebäude des Bischöflichen Palais zu sehen. Dieses Gebäude stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. „Wann genau der Bau begonnen hat, wissen wir nicht. Auf einem Stadtplan (Innere Stadt) von 1758 ist das Gebäude eingezeichnet, aber es wird präzisiert, dass es als Bischöfliche Residenz ‘neu zu erbauend’ ist. Den Plan unterzeichnet Ingenieur Carl Alexander Steinlein, der auch beim Bau der Domkirche und der Festung tätig war. Wer der Architekt war, der die Pläne des Hauses entworfen hat, wissen wir nicht. Die Engelköpfe könnten schon von Anfang an da gewesen oder spätestens im 19. Jahrhundert angebracht worden sein. Auf den meisten älteren Bildern aus den 1890er Jahren sind sie auf der Fassade sichtbar“, erklärt der Archivar der Römisch-Katholischen Diözese Temeswar, Dr. Claudiu Călin. Als Bischof Alexander Dessewffy nach dem Tod von Bischof Alexander Bonnaz die Leitung der Diözese übernahm, 1889-1890, wurde das Haus gründlich saniert. „Morphologisch und stilmäßig scheinen die Engelköpfe auf den Fassaden des Bischöflichen Ordinariats etwas jünger als der Domkirche zu sein. Restaurierungen und Renovierungen konnten aber auch darauf einen Einfluss gehabt haben“, fügt der Historiker hinzu.
Die Piaristenkirche
Engel sind auch auf den Fassaden anderer Kirchen in Temeswar zu sehen, wie etwa auf der katholischen Piaristenkirche zum Heiligen Kreuz am König-Ferdinand-Boulevard Nr. 3, zwischen Opernplatz und Zentralpark. Es ist die einzige Kirche in Temeswar, die den Abdruck des für die 1900er Jahre spezifischen Baustils trägt, gekennzeichnet von neo-byzantinischen, ungarischen und barocken Elementen. Im Inneren dieser Kirche gibt es auch Elemente aus der einstigen Franziskanerkirche, die 1911 abgerissen wurde. Die Piaristenkirche, wie sie derzeit zu sehen ist, wurde in den Jahren 1909-1911 nach den Plänen der Architekten Alexander Baumgarten und László Székely erbaut.
Das Serbisch-Orthodoxe Palais
Ein weiteres beeindruckendes Bauwerk mit Engelsdarstellungen ist das Gebäude des serbisch-orthodoxen Bistums am Domplatz. Die prachtvolle Fassade im „neuserbischen“ Stil wurde vom Architekten László Székely entworfen und 1906 fertiggestellt. Umfangreiche Sanierungsarbeiten wurden 2012-2013 nach den Plänen des Architekten Bogdan Demetrescu durchgeführt.
Die Engelsfiguren des serbisch-orthodoxen Bischofspalais erfüllen hier die Rolle der Wappenhalter, da sie das Wappen des serbisch orthodoxen Bistums Temeswar tragen.
Die Engelsfiguren auf den Fassaden dieser Gebäude spiegeln nicht nur den künstlerischen Reichtum Temeswars wider, sondern auch die kulturelle Vielfalt der Stadt. Temeswar war stets ein Schmelztiegel verschiedener Ethnien und Religionen – von Ungarn, Rumänen und Deutschen bis hin zu Serben und Andersnationalen. Die Engelsfiguren verkörpern somit auch den Geist der Stadt: eine Verbindung von Geschichte, Glauben und Kunst, die sich in der Architektur manifestiert.
Haben auch Sie Engel auf Temeswarer Gebäuden gesichtet? Schicken Sie uns doch ein Bild davon, und wir veröffentlichen es in einer unserer nächsten Zeitungsausgaben!