„Die Freude am Spielen muss wach gehalten  werden, um Musik genießen zu können“

Gespräch mit Bernhard Forck, Konzertmeister der Berliner Akademie für Alte Musik

Bernhard Forck bei der Baroque Academy innerhalb des Eufonia-Festivals Foto: Remus Dăescu

Das 6. Eufonia-Festival wurde im Spätsommer in Temeswar ausgetragen. Ausgegangen von der Idee, dass Musik für alle da ist, wurden in der Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar verschiedene Musikereignisse für Menschen, die nicht immer Zugang zur Kultur haben, organisiert. Wie schon üblich hatten die teilnehmenden Musiker aus zehn Ländern weltweit die Möglichkeit gehabt, sich auch an Meisterklassen und an der Barockakademie innerhalb des Festivals zu beteiligen. Zum zweiten Mal wurde somit die Eufonia Baroque Academy organisiert. Dank des Erfolgs der ersten Ausgabe 2022 war Bernhard Forck, seit mehr als 30 Jahren Konzertmeister der Berliner Akademie für Alte Musik, auch 2023 wieder dabei. Zur Musik und der Eufonia-Erfahrung hat sich ADZ-Redakteurin Andreea Oance mit dem deutschen Konzertmeister unterhalten.

Sie beteiligten sich nun zum zweiten Mal an der „Baroque Academy“ des Eufonia-Festivals. Was bewegt Sie an diesem Festival in Temeswar?

Ich bin voriges Jahr vom künstlerischen Leiter des Festivals gefragt worden, ob ich Interesse hätte, nach Temeswar zu kommen. Vlad Popescu hatte ich schon als Student in Berlin an der Hochschule erlebt. Er entschied 2022, auch einen Barock-Teil innerhalb des Festivals einzuführen. Mein Bruder Stephan Forck war schon das Jahr zuvor hier. Er ist Cellist und hat mir ganz begeistert erzählt, wie schön es hier in Temeswar sei. So habe ich sofort ja gesagt, weil ich als Student, als junger Mensch, öfter in Rumänien war. Aber seitdem hatte ich keine Gelegenheit mehr, wieder hierher zu kommen und war sehr gespannt darauf. Neben der wunderschönen Stadt, die im Spätsommer einfach ideal ist, finde ich das Schöne am Festival, und das hat mich schon bei meinem ersten Besuch hier beeindruckt, dass ich so vielen offenen jungen Leuten begegnet bin, mit ihrer Begeisterung und Neugier, sich auf Neues einzulassen, vor allem diejenigen, die bisher nur wenig Berührungspunkte mit Barockmusik hatten. Deshalb habe ich jetzt auch beim zweiten Mal sofort wieder zugesagt. Und ich komme gerne wieder. Der Leute wegen, der Atmosphäre hier in der Stadt und auch der Möglichkeit wegen, ein Programm selbst auswählen und gestalten zu können.

 Mit der Akademie für Alte Musik Berlin reisen Sie seit Jahrzehnten rund um die Welt, um diese Musik zu fördern.  Wie kam es, dass Sie sich für die Barockmusik, für alte Musik, entschieden haben?

Alles begann für mich sehr, sehr früh. Ich habe schon mit ungefähr fünf Jahren angefangen, ein Instrument zu lernen, denn ich komme aus einem musikalischen Haushalt. Mein Vater war Pfarrer, meine Mutter liebte das Singen und leitete den Kinderchor. Wir waren fünf Geschwister - jeder hat ein Instrument gespielt. Es gab viel Hausmusik bei uns. Und das war größtenteils Musik des Barock oder der Klassik. Und dann bin ich eigentlich durch Zufall in der Zeit meines Studiums mit den Mitbegründern der Akademie für Alte Musik Berlin in Kontakt gekommen, die ebenfalls eher durch einen Zufall an einen wahren Schatz an Originalinstrumenten gekommen sind. Dieser Klang hat mich so fasziniert, mir eine so neue Sicht auf die Musik gegeben, dass ich mich schon im Studium intensiv mit der Barockgeige und der Musik des 17./18. Jahrhunderts beschäftigt habe. Gleichzeitig habe ich aber auch mein Studium der modernen Geige abgeschlossen, war fünf Jahre Mitglied im Berliner Sinfonieorchester und habe ein Streichquartett gegründet. 15 Jahre lang haben wir mit dem Streichquartett meistens neuere Musik gemacht. Aber das Schwergewicht in meinem musikalischen Leben ist schon immer die Akademie für Alte Musik Berlin gewesen.

Und gerade als 1989 die Wende kam, habe ich mich entschieden, meinen Job im Orchester zu kündigen und freiberuflich zu arbeiten, weil ich damit ganz andere Möglichkeiten hatte, mich mit anderen Musikern zu vernetzen, unterwegs zu sein und nicht im Orchester gebunden war. Das war eine sehr gute Entscheidung für mich. Später übernahm ich noch die künstlerische Leitung des Händelfestspielorchestesr Halle und fing auch an, zu dirigieren, besonders Opern und Oratorien, so dass ich sehr vielfältig beschäftigt war. Und jetzt werde ich   meistens als Jemand mit Expertise für die Barockmusik gefragt.

Wie interessiert sich heutzutage die Welt für Barockmusik?

Erstaunlicherweise ist es fast leichter, Barockmusik zu verkaufen als zum Beispiel moderne Musik. Das Interesse an zeitgenössischer Musik ist leider viel, viel weniger ausgeprägt. Früher war das anders: da spielte man nur Musik von Zeitgenossen. Das Interesse für die ältere Musik kam erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit Felix Mendelssohn Bartholdy, eine Art Renaissance, die 100 Jahre nach der Uraufführung die Matthäus Passion von Johann Sebastian Bach oder den Messias von Händel wieder zum Erklingen brachte. Mitte des 20. Jahrhunderts gab es dann eine andere Bewegung, die sich für das barocke Instrumentarium interessierte, um zu sehen, wie es eigentlich damals geklungen haben könnte. Da gab es Pioniere, wie Nikolaus Harnoncourt oder Gustav Leonhardt, die originale Instrumente – z.B. alte Gamben, Lauten, Cembali, diverse Blasinstrumente – wieder entdeckten und restaurierten. Und daraus entstand dann eine Bewegung,  die auch uns beeinflusst hat. Mir geht es eigentlich nicht so sehr darum, etwas zu konservieren wie in einem Museum. Wenn ich diese Musik spiele, interessiert mich, was damals neu war, was die Leute damals überrascht, geschockt hat oder was schon alt und vertraut war. Und wie schafft man es, das dem heutigen Hörer näher zubringen. Das hat meinen Blick auf die Musik verändert, weil ich sozusagen die Basis nochmal anders angesehen habe. Durch die intensive Beschäftigung mit der Musik von Händel, Bach, Telemann und vielen anderen, habe ich  auch Mozarts oder Haydns Musik anders und neu erlebt. In letzter Zeit haben wir uns viel mit Beethoven und seinem Umfeld beschäftigt, mit Mendelssohn und Brahms. Auch dort sind die Einflüsse der Barockmusik deutlich spürbar. Und wenn man jetzt rückwärts schaut, schaut man anders auf die Komponisten. Insofern also bin ich sehr froh, dass das Publikum gerne Barockmusik hört.

Sie wollten herausfinden, was die Leute damals an Barockmusik begeistert hat. Was haben Sie bei dieser Recherche herausgefunden?  Oder hat das irgendwann mal aufgehört?  
Nein, die Recherche hat eigentlich nie aufgehört. In Temeswar haben wir z.B. Heinrich Ignaz Franz Biber, einen großen Geigenvirtuosen seiner Zeit, gespielt. Er hat die Instrumente genutzt, um musikalisch farbenreich darzustellen, was die Natur oder die Umgebung ihm bietet. Das Stück heißt „Battaglia“, auf deutsch „Die Schlacht“, und schildert das Leben der Musketiere (Soldaten) im Krieg. Um das Schlachtengetümmel darzustellen, streicht man die Bögen nicht nur über die Seite, sondern man schlägt mit dem Holz, der Bogenstange, auf das Instrument. Oder man macht ein Pizzicato, was wir heute Bartok-Pizzicato nennen, das so kräftig auf das Griffbrett schlägt, dass es einen enormen Krach gibt. Das sind dann die Kanonenschüsse. Und dann lässt Biber zum Beispiel vor der Schlacht die betrunkenen Soldaten jeder sein eigenes Lied aus seiner Heimat singen. Aber gleichzeitig. Das ist Kakophonie. Das sind sieben verschiedene Lieder, die gleichzeitig erklingen. Das klingt wie die modernste Musik. Die Leute müssen damals geschockt gewesen sein, wenn sie so etwas gehört haben.

Diese Momente will ich versuchen wiederzubeleben. Warum? Nehmen wir als Beispiel Joseph Haydn. Er war fast 30 Jahre lang verantwortlich für die Musik am Hof des Fürsten Esterhazy. Er hatte fast immer dieselben Musiker und das gleiche  Publikum. Also musste er sich Woche für Woche immer wieder neue Dinge einfallen lassen, um die Aufmerksamkeit des Publikums zu erlangen. Und dabei hat er Vollkommenheit erlangt, hat immer wieder Neues erfunden - so wie die Abschiedssinfonie, in der zum Schluss nur noch ein Musiker übrig bleibt oder die Sinfonie mit dem Paukenschlag, die das Publikum aus ihrem Dämmerschlaf aufschrecken lässt.

Wie stehen Sie eigentlich zur Musik nach so vielen Jahren, seitdem Sie Musik machen und sie so verschieden erlebt haben?

Schwierige Frage. Das Problem, glaube ich, was man wirklich als Musiker hat, ist, nicht in Routine zu verfallen. Ich versuche, das besondere Glücksgefühl, dass ich bei meiner ersten Bachschen h-moll Messe, der ersten Matthäuspassion, der ersten Mozart- oder Monteverdi-Oper erlebte, zu bewahren und diese Freude daran auch wachzuhalten und alles genauso genießen zu können, wie damals. Das ist gar nicht so leicht. Das merke ich auch beim Unterrichten. Zum Glück bringen die jungen Musiker ja auch ihre eigenen Ideen und Vorstellungen mit – das finde ich am Unterrichten richtig schön, denn das bereichert auch mich. Im besten Falle ist das ein gegenseitiges Geben und Nehmen.

Was begeistert Sie nun heutzutage an Musik?

Die Musik trifft Bereiche in uns, die nichts anderes berühren kann. Allein schon die Tatsache, dass sie international ist, dass sie eine Sprache ist, die man überall versteht. Mich als Lehrer und Musiker mit einigen Jahren Erfahrung fasziniert aber auch, wenn ich Musik durch die sehr persönliche Interpretation des Künstlers wieder neu erleben kann.

Mit der Akademie für Alte Musik Berlin haben wir in den letzten Jahren einen Beethoven-Zyklus gestartet, in dem wir Beethoven-Sinfonien mit Werken von Komponisten aus seinem Umfeld, aus seinem engen Freundeskreis, die zum Teil völlig vergessen sind, zur Aufführung gebracht haben. Und da gibt es zum Beispiel ein Vorbild für die sechste Sinfonie von Ludwig van Beethoven, das 25 Jahre zuvor komponiert wurde. Heinrich Justin Knecht, ein Komponist aus dem Stuttgarter Raum, hat dieses Konzept, das Beethoven später übernommen hat, für die „Pastorale“ erdacht. Beethoven hat daraus ein Meisterwerk gemacht. Aber zu sehen, das er auf schon Bestehendes zurückgreifen konnte, hat mich fasziniert und begeistert mich immer noch.

Sie unterrichten auch an der staatlichen Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. So haben sie auch den künstlerischen Leiter des Eufonia-Festivals, Vlad Popescu, aber auch andere rumänische Musiker kennengelernt. Wie sehen Sie die Musiker, die aus Rumänien kommen? Gibt es Unterschiede zu Musikern mit anderen kulturellen Hintergründen?
Ja, tatsächlich habe ich Vlad Popescu an der Musikhochschule in Berlin kennengelernt. Für ihn war der EU-Beitritt Rumäniens 2007 eine Chance, im Ausland zu studieren. Davor, besonders bis 1989, war es viel schwieriger, da war Rumänien ein geschlossenes Land. Jetzt gibt es diese Möglichkeiten, mit  Musikern aus aller Welt zu musizieren und voneinander zu lernen. Ich merke an der Hochschule, wenn ich etwa mit Studenten aus der Ukraine, Rumänien, Russland oder Armenien zu tun habe, dass sie eine strengere Ausbildung gehabt haben, als wir in Deutschland, mit sehr viel Disziplin und dem Interesse, dass Kinder schon im frühen Alter sehr viel üben und hart arbeiten. Wahrscheinlich ist das nötig, um wirklich erfolgreich zu werden. Andererseits ist es mir wichtig, zu zeigen, dass es in der Musik um mehr geht als um Disziplin, es braucht auch Begeisterung. Das ganze Problem mit der klassischen Ausbildung ist, dass wir fast immer die Musik anderer spielen. Und dann wird uns immer gesagt, wie wir diese zu spielen hätten. Entweder explizit durch die Lehrer oder indirekt, weil wir durch die Aufnahmen, die wir hören, geprägt sind. Ich denke, als Musiker muss man immer mal weg von Zuhause, vom Vertrauten. Man muss neue und andere Dinge kennenlernen und seinen eigenen Weg, die eigene Sprache finden. Genauso ist es auch mit diesem Festival in Temeswar, wo so viele Musiker von weither zusammenkommen.

Was folgt jetzt für Sie? Was für Pläne haben Sie mit der Akademie?  

Als Nächstes habe ich in Linz ein sehr spannendes Projekt mit einem Melodram von Georg Anton Benda vor, einem böhmischen Komponisten. Melodramen waren im 18. Jahrhundert sehr beliebt. Das ist eine Zwischenform zwischen Theater und Musik. Es geht um die fürchterliche Geschichte der Medea, die am Ende ihre eigenen Kinder umbringt. Das ist sehr starke Musik, die nur selten zu hören ist. Dann setzen wir unsere CD-Reihe, die wir mit Beethoven begonnen haben, mit den Sinfonien Mozarts fort. Im November gibt es eine große Opernproduktion an der Staatsoper in Berlin. Im Februar 2024 beginne ich dann mit den Proben für eine Rameau-Oper in Münster.