Die größere Gerechtigkeit

Wort zum Sonntag

Christus richtet eine ernste Mahnung an uns: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Wie sah denn die Gerechtigkeit der Pharisäer aus? Sie befolgten peinlich alle äußerlichen Vorschriften des Gesetzes, innerlich aber waren sie voll von Ehrsucht, Habgier und Selbstgerechtigkeit. Sie hielten sich für die besten aller Menschen. An den Mitmenschen, die nicht zu ihrer Gruppe gehörten, fanden sie nur Tadelns- und Verdammungswertes. Selbst der sündenlose Jesus kam bei ihnen schlecht weg. Sie nannten ihn einen Schlemmer und Prasser, Freund der Zöllner und Dirnen, Volksverführer und Gotteslästerer. Der Pharisäer, wie ihn Christus charakterisiert, ist mit doppelter Blindheit geschlagen: Er ist blind für das Böse im eigenen Herzen und zugleich blind für das Gute in den Herzen anderer Menschen.

Steckt auch in uns etwas von diesem Pharisäergeist? Durchsuchen wir alle Schlupfwinkel unseres Herzens. Kein Ort der Welt hat so viele verborgene Schlupfwinkel wie das Menschenherz. Schauen wir uns mal die eine Seite des pharisäischen Tuns an: Eine Frau, die sich für sehr fromm und demütig hielt und auch von den anderen als solche geehrt sein wollte, kam in den Beichtstuhl. Sie klagte sich an, sie sei die größte Sünderin und der Gnade Gottes gänzlich unwürdig. Nun erwartete sie, dass der Beichtvater ihr widerspreche und ihre Demut lobe, zumal sie nur Nichtssagendes gebeichtet hatte. Doch der erfahrene Seelsorger kannte seine Pappenheimer. Ernstlich ermahnte er sie: „Sie haben recht! Es ist höchste Zeit, dass Sie endlich Ihr Leben ändern.“ Da fuhr die Frau wie eine gereizte Schlange auf: „Wer kann mir etwas nachsagen? Herr Pfarrer, Sie sind der größte Grobian auf Gottes Erdboden!“ Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Beichtstuhl. So sah ihre eingebildete Demut in Wirklichkeit aus.

Und wie sieht die Bescheidenheit aus, wenn sie auf den Prüfstein gestellt wird? Einem Theaterschreiber erklärte ein Besucher: „Ihr neues Stück ist wundervoll. Sie haben sich selbst übertroffen!“ Bescheiden wehrte der Schreiber ab: „Ach, Sie wollen mich nur über seine Mängel hinwegtrösten.“ Der andere erwiderte: „Noch nie hat ein Stück einen solchen Eindruck auf mich gemacht.“ Bald darauf hörte er den Bericht eines anderen Mannes: „Ihr Stück wurde in der Nachbarstadt auch aufgeführt. Der Applaus blieb aber aus.“ Sofort fiel der Theaterschreiber aus der Rolle: „Ach, die aus der Nachbarstadt haben von vorzüglichen Theaterstücken keine blasse Ahnung.“ Das blieb von seiner Bescheidenheit nach der negativen Kritik übrig.
Wie steht es mit uns? Seien wir aufrichtig: Solange man uns lobt und anerkennt, sind wir bescheiden und sanft wie ein Lamm, werden wir aber getadelt und angegriffen, geschieht sogleich ein Naturwunder: Das sanfte Lamm verwandelt sich in einen wütenden Wolf, der alle seine Gegner zerreißen möchte. Das ist die eine Seite.

Schauen wir uns auch die andere an. Wie sieht der durch den Pharisäergeist Erblindete die anderen Menschen? Sind sie in seinen Augen genauso gut wie er selber oder gar noch besser? Leute dieser Sorte entwickeln ein besonderes Talent, den guten Taten der Mitmenschen ein schlechtes Motiv unterzuschieben. – Ein Mann hatte eine große Geldsumme für die Armen gespendet. Eine gute Tat. Wurde sie von den andern als solche anerkannt? Der erste: „Der kann leicht geben, denn er hat ja von wo.“ Der zweite: „Das ist wirklich viel. Bei anderen Gelegenheiten ist er nicht so nobel.“ Der dritte:  „In seinen jungen Jahren hat er das Geld für ganz andere Dinge ausgegeben, die keineswegs lobenswert waren.“ Der vierte: „Er wird sich auch genug darauf einbilden.“ Keiner ließ ein gutes Haar an der guten Tat. Kommen ähnliche Dinge nicht tagtäglich auch bei uns vor?

Wie sieht es mit unserer Gerechtigkeit aus? Ist sie größer als die der Pharisäer? Stellen wir sie auf den Prüfstein. Wie sehen wir uns, wenn unsere Taten nicht den Forderungen Christi entsprechen? Viele befolgen den Ausspruch des Dichterphilosophen Nietzsche: „Das hast du getan“, sagt mein Gedächtnis. „Das kannst du nicht getan haben“, sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach. Handelt es sich aber um andere, dann halten sie sich an das Wort Albings: „Einen Punkt behalten die meisten Menschen im Auge: Das ist der dunkle Punkt im Leben des Nächsten.“

Was sollen wir tun? Unterziehen wir uns einer geistigen Augenoperation und lassen wir uns von der Blindheit heilen. Dann wird das Gedächtnis stärker als der Stolz und wir entdecken an uns Fehler. Bei den andern sehen wir nicht nur den dunklen Punkt, wir sehen auch die hellen Punkte. Das Ergebnis wird erfreulich sein: Unsere Gerechtigkeit wird weit größer sein als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer!