Die Prozession

Es war Mitte Dezember 1989, wir waren Teenager und Teil einer strikt limitierten Welt.

Es machte keinen Sinn, vor 20 Uhr die alte Flimmerkiste einzuschalten, da bis dahin auf dem einzigen Sendekanal der Sozialistischen Republik Rumäniens nicht einmal ein Testbild übertragen wurde. Doch in jenen Dezembertagen war es anders: Der Fernseher lief und die Kinder des Hauses hatten die Aufgabe, die Eltern zu rufen, wenn etwas übertragen wurde, das vom laufenden Sonderprogramm abwich, auch wenn wir keine Vorstellung hatten, was das sein sollte, da wir nichts anderes jemals im TV zu sehen bekamen. Es sang ein Frauenchor der Werktätigen einer Großfabrik, wobei Nahaufnahmen vermieden wurden, um den Verfall nicht auf Anhieb erkennen zu können. Um dem Ganzen dennoch einen Glanz zu verleihen, trugen die Sängerinnen weiße Gewänder, eine Art langer Abendkleider, inmitten einer verdreckten Industrieruine politische Loblieder singend. 

Dann die Unterbrechung. Wir riefen die Eltern. Mit der gewohnten ernsten Miene las der Moderator vor laufender Kamera ein Papier ab, wie es mit Waffengewalt bedrohte Entführungsopfer tun. Es folgte eine Direktübertragung der Rede des Genossen Nicolae Ceaușescu, der uns kein Genosse und auch kein Conducator/Führer war, sondern Symbolfigur für alles Elend. Dort stand einer, der politische Floskeln aneinander reihte, die am Schulhof nachgeahmt benutzt wurden, wenn etwas uncool war.

Die Eltern klopften uns ermutigend auf die Schulter, weiter zu gucken. Sie waren in der Küche damit beschäftigt, Presswurst und Sülze aus sonst nicht weiter verwendbaren Schweineteilen zuzubereiten. Sich mit Nahrungsmittel selbst zu versorgen, war die einzige Alternative für Brotspeisen mit Brot dazu.

Dann untypisch hastige Kameraschwenks. Wir drehten den Fernsehton wieder auf. Ceaușescu mahnte zur Ruhe. Um sich Gehör zu verschaffen, rief er mehrmals „Hallo!“ und wir riefen die Eltern. Es schien, als ob weder Kameramann noch Regie wussten, was sie zeigen sollten: Einen unerwartet machtlos rufenden Mann auf einem Redner-Balkon oder eine Jubelmenge, aus der plötzlich Buhrufe und Pfiffe zu hören waren. Schließlich kam ein Testbild, das übergangslos erneut den Frauenchor zeigte, und unsere Eltern zeigten sich zufrieden, als hätten sie die letzten Jahrzehnte genau auf so etwas gehofft. Dann gingen sie erneut in die Küche. „Der Pfeffer ist uns ausgegangen“, hörten wir Vater noch sagen. Aber an jenem Tag lag Optimismus in der Luft, obwohl wir nicht zu Schulfreunden radeln durften, da in der Stadt bewaffnete Patrouillen unterwegs waren. 

Abends, die Küche war längst aufgeräumt, saßen wir nun die ganze Familie um 20 Uhr vor der Flimmerkiste, wo - seit wir denken konnten - um jene Uhrzeit die Propaganda-Nachrichtensendung „Telejournal“ begann, eine wichtige Informationsquelle, um zu erfahren, wie Nahrungsmittel aussahen, die im Laden nicht erhältlich waren. Die Sendung begann nicht. Statt dem Flimmern aus der Kiste schien draußen auf der schlecht beleuchteten Straße etwas zu flimmern. 

Die ganze Familie trat ans Wohnzimmerfenster, um festzustellen, dass auch in anderen Fenstern Silhouetten zu erkennen waren. Unten, auf der Straße, sahen wir viele Menschen, wie sie schweigsam vorbei gingen. Sie trugen leuchtende Kerzen vor sich her. Immer wieder sahen sie zu den abgedunkelten Wohnungsfenstern, winkten uns herbei, um mitzugehen. Unsere Eltern legten irgendwie schützend die Arme um uns und auf die Schultern und niemand ging raus, in den Winter, zu einer vorweihnachtlich anmutenden Prozession mit Kerzen, schweigsam anklagend, schweigsam hoffend.

Es war der 21. Dezember 1989, wir waren Teenager und uns gehörte plötzlich die Welt.