Die (un)genutzten Möglichkeiten

Arno Lustiger erinnert an die europäischen Judenretter der NS-Zeit

Als 1942 die jüdischen Mitarbeiter seiner Werkstatt deportiert wurden, zog der blinde Bürstenmacher Otto Weidt von Berlin nach Auschwitz, um sie dort wieder freizubekommen. Offiziell verkaufte er seine Ware an die Wehrmacht und die Lagerbesatzung, insgeheim schmierte er sie und rettete so 27 Juden das Leben.

Es sind solche kleinen Einzelschicksale, die Arno Lustiger in seinem Buch „Rettungswiderstand“ porträtiert. Dabei unternimmt er den Versuch, nicht nur an die oft vergessenen deutschen Judenretter zu erinnern, sondern einen Überblick über die „unbesungenen Helden“ ganz Europas aufzuzeigen. Wie verschieden die Judenretter, wie unterschiedlich ihre Beweggründe waren, sich für Juden einzusetzen, wird in der groß angelegten Analyse deutlich. Die Helfer „kamen aus allen sozialen Schichten. Viele verfügten weder über bedeutende finanzielle Mittel oder große Wohnungen, noch waren sie besonders gebildet oder hatten wichtige Kontakte“, bemerkt Gastautorin Beate Kosmala. „Nicht alle handelten uneigennützig. Einige nutzten die Notlage der Verfolgten aus, indem sie Gegenleistungen forderten, auch sexuelle.“

Die Zahl der Judenretter, die im Stillen Widerstand gegen den NS-Staat leisteten, lässt sich nicht feststellen, zu viele Belege haben die Zeit nicht überdauert. Zudem schwiegen viele Retter nach dem Krieg aus Furcht vor Anfeindungen. Der Ingenieur Hermann Gräbe etwa wurde wegen seiner Zeugenaussage in späteren Prozessen als „Nestbeschmutzer“ beleidigt – kein Einzelfall, wie Lustigers Studie belegt. Besonders in Deutschland war die Erinnerung an die Judenhelfer unbequem, da sie Möglichkeiten des kleinen Widerstandes aufzeigten, die von der Mehrheit der Gesellschaft nicht genutzt worden waren.

Lustigers Betrachtung führt zuletzt unumgänglich in den Nahen Osten und wird in ihren letzten Kapiteln zu einer Streitschrift für ein jüdisches Palästina, was dem Gesamteindruck der Lektüre eher abträglich ist. Auch an anderen Stellen scheint sich Lustiger der Entfernung von dem Eigentlichen nicht bewusst zu sein, etwa wenn er dem stellvertretenden US-Außenminister und Antisemiten Breckinridge Long ein Porträt widmet, das umfangreicher als das vieler Judenretter ausfällt.

Insgesamt aber tut dies der Studie wenig Abbruch. Die einzelnen Schicksale sind gut recherchiert, ohne verklärend zu wirken, und dabei in zahlreiche erläuternde Gastbeiträge eines bunt zusammengestellten Autorenteams eingebettet. Ein erschütterndes Zeitbild und tröstendes Zeugnis stiller Tapferkeit.

Arno Lustiger: „Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit“, Wallstein Verlag Göttingen, 2011, ISBN: 978-3-8353-0990-6, 462 Seiten, 29,90 Euro