Die Zukunft als Bedrohung?

Einige Gedanken zum Ende eines merkwürdigen Jahres

 

Wenn also nicht pünktlich zum vierten Adventssonntag, dann vielleicht zu Ostern oder lieber sogar zu Pfingsten: Der Autor dieser Zeilen hatte Mitte November geschrieben, dass in der zweiten Dezemberhälfte Staatspräsident Klaus Johannis von seinem gewählten Nachfolger verabschiedet wird und sein Dasein als unbekümmerter Rentner antreten werde. So kann man sich irren. Johannis ist im Amt geblieben, er hat eine neue Regierung ernannt und wird mindestens bis zum Frühjahr auf seinem Präsidentensessel bleiben. Ironischerweise ist es wohl die beste Übergangslösung für eine Krisensituation, für die er selbst einen nicht unwesentlichen Teil der Verantwortung trägt.

Die Amtszeit von Johannis ist seit zehn Tagen ausgelaufen, auf dem Präsidentensessel verharrt er allein durch eine juristisch alles andere als einwandfreie Auslegung der Verfassung durch ein Verfassungsgericht, das, konfrontiert mit zwei Übeln, das kleinere gewählt hat. Dass dabei die rumänische Politik und vor allem das gegenwärtige Establishment, welches sich nun als „proeuropäisch“ darstellt, auch den letzten Rest an Vertrauen verspielt hat, den das Wahlvolk in seinem Staat und in dessen Amtsträgern noch hatte, ist in den Augen der Hauptakteure der letzten Monate lediglich ein Kollateralschaden. Ob und wie dieses Vertrauen wieder aufgebaut werden kann, dürfte die wohl schwierigste Frage der kommenden Jahre sein. So schwierig, dass sich wahrscheinlich keiner damit ernsthaft beschäftigen wird. Allerdings können Gesellschaft und Staat ohne ein Mindestmaß an Vertrauen nicht funktionieren. Dieses ist nun zutiefst beschädigt, der Schaden ist kurz- und mittelfristig wohl irreparabel. Hierin liegt auch der größte Vorwurf, den man der alten und neuen Führungsriege dieses Landes machen kann, Präsident Johannis mit eingeschlossen: Die taktischen Manöver der auf der Bühne konkurrierenden, jedoch in den Kulissen relativ gut zusammenarbeitenden Parteien und ihrer intellektuell eher beschränkten Spitzen, diese peinlichen Spielchen, diese lächerliche Rollenverteilung in einem drittklassigen Film, den sich das Volk angeekelt ansehen musste,  sind wohl der Beweis, dass Teile des Establishments ihren inneren Kompass verloren haben und bereit sind, die mit großen Anstrengungen und zahlreichen Kompromissen erreichte westliche Bindung dieses Landes aufzuopfern.
Man bedenke: Rund die Hälfte der Wähler haben sich gar nicht mehr bemüht, ihre Stimme abzugeben, ein erheblicher Teil der anderen Hälfte ist der Meinung, dass neun Verfassungsrichter sich über neun Millionen Stimmen einfach hinweggesetzt haben. Noch nie war das Volk für die feine Rechtsabwägung zu haben, juristische Haarspalterei interessiert im besten Falle lediglich die Juristen. Dabei ist das Verfassungsgericht, nach dem Irrweg der Neuauszählung der Stimmen, den einzig gangbaren Weg gegangen, auch wenn das bedeutet, dass es sich selbst ermächtigt hat und eigene Kompetenzen aus dem Verfassungstext herausgelesen hat, die der verfassungsgebende Gesetzgeber vielleicht gar nicht hineinschreiben wollte.
Das Schlimme gilt aber als bereits vollbracht. C²lin Georgescu, eine eigentlich bedeutungslose Gestalt des Systems, das ihn zeitweilig nicht mehr unter Kontrolle bekam, samt dessen Anhänger, dürfen weiterhin brüllen, Rache schwören und sich auf den Endkampf gegen „die da oben“ vorbereiten. Es wird immer von denen genug geben, die solches Gebrüll ernst nehmen. Die tatsächlich das glauben, was der Scharlatan Georgescu erzählt. Aber man hat seit dem 24. November so vieles schon über ihn gesagt, dass nicht mehr viel zu sagen wäre. Er ist das Fehlprodukt eines defekten Systems, zusammengeschraubt und nach vorne geschoben von unrettbaren Altkommunisten, ehemaligen Geheimdienstlern zweiten und dritten Rangs, die in den vergangenen Jahrzehnten und vor allem seit dem EU-Beitritt immer mehr Groll angehäuft und denselben Groll bei anderen kultiviert haben. Gegen die EU, gegen das Fremde, gegen die Globalisierung, gegen den vermeintlichen Ausverkauf des Landes. Immer mit einer starken Prise Nationalismus, Ethnozentrismus, Orthodoxie und dem bizarren Kult des Dakertums. Gespickt mit Zitaten aus Reden des Militärdiktators und Kriegsverbrechers Ion Antonescu und mit der bewussten Tolerierung eines faschistoiden Diskurses, das im traurigen Bild der jungen Mutter von Tânc²be{ti seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat: ein Kleinkind auf dem linken und der rechte Arm ausgestreckt zum Hitlergruß.

Es ist auf den Punkt genau das Propagandarezept des letzten Jahrzehnts der Ceau{escu-Diktatur, nun befeuert mit den Mitteln des digitalen Kapitalismus. Wa-rum sollten da „die Russen“ überhaupt noch einen Finger rühren, wenn man sich doch so schön und einfach selbst zerlegt? Irgendein russischer Digitalunternehmer hat es dieser Tage aber auf den Punkt gebracht: Von einer englischsprachigen Zeitung nach Sinn und Erfolg von Onlinekampagnen gefragt, soll er gesagt haben, dass Rumänien ein wunderbares Ziel für diese Art medialer Kriegsführung sei, da die Bevölkerung zahlreich, relativ wohlhabend und gering gebildet sei. Wie recht der Mann hat!

Das inzwischen dramatisch gesunkene Bildungsniveau der meisten Bürger, ob jung oder alt, liefert jedem Gegner dieses Landes, ob Russland oder nicht, die Waffen, die er braucht. Es untergräbt Demokratie und Wohlstand, so relativ sie auch sein mögen. Es lässt in einer instabil gewordenen Welt, in der die regel- und wertebasierte Ordnung in ihren letzten Atemzügen zu liegen scheint, die Zukunft zur Bedrohung werden. Es ist zweifelhaft, ob die gegenwärtige politische Klasse auch wirklich in der Lage ist, zu begreifen, dass sich Verhängnisvolles anbahnt, sollte sich tatsächlich nichts ändern. Die bisherigen Zeichen sind alles andere als versprechend. 35 Jahre nach der Wende scheint eine parteiübergreifende Kleptokratie an der Macht zu sein, die größtenteils von für rechtsstaatliche und demokratische Verhältnisse zu starken Geheimdiensten kontrolliert wird, denen es ebenfalls um den Erhalt von Macht und wirtschaftlichen Interessen geht und die tatsächlichen oder vermeintlichen ausländischen Bedrohungen dann einsetzen, wenn es taktisch passt. Dieses Mal lief die Sache aus dem Ruder.
Rumänien hat in den vergangenen sechs Wochen ein politisches Drama erlebt, das sich als das erwiesen hat, was es tatsächlich auch war: eine Farce, angezettelt von den Nachfolgern jener, die heute vor 35 Jahren den blutigen Ausgang der antikommunistischen Revolution so gestaltet hatten, damit sie und eben nun ihre Nachfolger an den Schalthebeln der Macht bleiben. Bezahlt hat bisher niemand, nicht einmal der peinliche Toni Grebl², eine Art rumänischer Landeswahlleiter, musste seinen Hut nehmen. Die Verhaftung irgendwelcher Halbweltbosse, die anscheinend zu Georgescus Entourage zählen und den zuständigen Behörden längst bekannt waren, gehört zur erwähnten Farce mit.

Im gegenwärtigen Machtkampf angeblicher Geheimdiensteliten, mit ihren Verstrickungen in Parteien, Wirtschaft und Justiz, schien Rumäniens Westbindung in Frage gestellt zu werden. Der Einbruch von Aktienkursen, der Wertverlust des Leu gegenüber dem Euro, die Verschlechterung internationaler Ratings, der Anstieg von Zinsen, das geschah alles automatisch. Denn, Georgescu und seinen extremistischen Freunden zum Trotz, Rumänien ist längst kein souveräner Staat mehr, zumindest in dem Sinne nicht, von dem diese Leute träumen. Rumänien ist Teil einer globalisierten Wirtschaft, die es Gott sei Dank noch gibt, es ist eingebettet in internationale Wirtschaftszusammenhänge und es hängt von internationalen Kapitalströmen ab. Und weil sich die Regierung in den vergangenen vier Jahren relativ viel Geld von internationalen Kreditgebern geliehen hat und sich auch in den kommenden Jahren viel ausleihen muss, liegt die Macht nicht in Bukarest, sondern in den Zentren der internationalen Finanz. Das letzte Mal, als das nicht so war, schrieb man das Jahr 1989 und das souveräne Volk stand Schlange vor den „Alimentaras“ und zitterte in den Wohnungen. Man muss am Verstand all jener zweifeln, die sich diese Art von Souveränität zurückwünschen.
Nun hat das Land eine neue Regierung bekommen, die ziemlich alt ist. Das schwere Erbe der Ciolacu-Regierung hat die Ciolacu-Regierung angetreten, die sich im neuen, ungarisch gefärbten Kleid als europäisch präsentiert. Dass keine der drei rechtsextremen Parteien regiert, ist zwar gut, doch die Koalition PSD-PNL-UDMR scheint nicht viel aus dem Debakel der vergangenen Wochen verstanden zu haben und das in Eile aufgestellte Kabinett wirkt kaum vertrauensbildend. Und wenn man dann auch noch an den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten denkt, wird einem übel. Wie sind diese Leute eigentlich auf Crin Antonescu gekommen? Wer kam auf den sonderbaren Gedanken, ihn aus der Mottenkiste der 2010er Jahre herauszuholen? Ist der proeuropäischen Koalition kein besserer Kandidat eingefallen oder schert sich niemand um den ziemlich klar erklärten Volkswillen? Weder am 24. November noch am 1. Dezember haben die Bürger ein „Weiter so“ ausgesprochen. Ganz im Gegenteil. Was machen aber die „Proeuropäer“? Sie verstecken sich hinter einem Mann von Vorgestern, der mit der herrschenden Kleptokratie bes-tens vertraut ist, weil er schon seit eh und je dazugehört hat. 2012 hat er alles andere als proeuropäisch gehandelt und, gemeinsam mit seinem damaligen und wohl auch jetzigen Freund Victor Ponta, das Land vor den Abgrund gebracht. Prognosen erweisen sich noch einmal als unzuverlässig, ob Antonescu Rumäniens neuer Präsident wird, hängt von vielem ab.

2024 hat gezeigt, dass auch in diesem Land Wirtschaftsfragen nicht mehr vordergründig und für den Ausgang von Wahlen nicht mehr bestimmend sind. Wirtschaftsgeschenke, von denen ja die alte Ciolacu-Regierung genug verteilt hat, beeindrucken nur noch einen geringen Teil der Wählerschaft. Der andere Teil, der durchaus größere, will einfach etwas anderes, was genau, weiß er selbst nicht.

Die Aussicht ist eher düster. Die Weltlage verschlechtert sich zusehends. An Rumäniens Spitze stehen ein Mann, dem vorläufig keine andere Möglichkeit gegeben ist, und eine Regierung, gebildet aus Gestalten, denen kaum jemand noch vertraut. Der Ausgang der zu veranstaltenden Präsidentschaftswahlen ist ungewiss, nicht einmal die Kandidaten stehen fest. Der Staatshaushalt ist aus den Fugen geraten und muss dringend in Ordnung gebracht werden. Ein aufgeblähter Staatsapparat, bevölkert mit Verwandten, Freunden und Geliebten, soll moderne Verwaltung betreiben. Diese müsste mit einem massiven Stellenabbau im öffentlichen Dienst beginnen, aber Selbstmörder sind in der rumänischen Politik äußerst seltene Vögel. Der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt sinkt seit 2017, dem Land fehlt eine klare ökonomische Perspektive. Geld gibt es in Überfluss, doch es verschwindet in den Konsum und wird kaum in produktive Investitionen geleitet. Die Folge heißt Inflation.  Man ist weder auf den drohenden Untergang der deutschen Autoindustrie vorbereitet, von der in Rumänien zehntausende Jobs abhängen, noch auf die Folgen von Klimawandel und zunehmender Digitalisierung. Von den Entlassungen, die bereits zu Jahresende in den IT-Hochburgen des Landes stattgefunden haben oder für das erste Halbjahr 2025 angekündigt sind, spricht niemand. Vom gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht viel übriggeblieben, ein Dialog zwischen den verfeindeten Lagern findet kaum noch statt. Wenn das doch geschieht, geht es um Nebensächliches oder um grundlegend Falsches und Unwahres, wie der gescheiterte erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen gezeigt hat. Und all das geschieht in einer Zeit, in der es diesem Land so gut geht wie noch nie in seiner Geschichte. Aber genauso wie in anderen Epochen tanzt Rumänien am Rande des Abgrunds. So abenteuerlich geht es hier zu.


Scharlatan Georgescu... ist das Fehlprodukt eines defekten Systems, zusammengeschraubt und nach vorne geschoben von unrettbaren Altkommunisten, ehemaligen Geheimdienstlern zweiten und dritten Rangs, die in den vergangenen Jahrzehnten und vor allem seit dem EU-Beitritt immer mehr Groll angehäuft und denselben Groll bei anderen kultiviert haben. Gegen die EU, gegen das Fremde, gegen die Globalisierung, gegen den vermeintlichen Ausverkauf des Landes.


2024 hat gezeigt, dass auch in diesem Land Wirtschaftsfragen nicht mehr vordergründig und für den Ausgang von Wahlen nicht mehr bestimmend sind. Wirtschaftsgeschenke, von denen ja die alte Ciolacu-Regierung genug verteilt hat, beeindrucken nur noch einen geringen Teil der Wählerschaft. Der andere Teil, der durchaus größere, will einfach etwas anderes, was genau, weiß er selbst nicht.


Man ist weder auf den drohenden Untergang der deutschen Autoindustrie vorbereitet, von der in Rumänien zehntausende Jobs abhängen, noch auf die Folgen von Klimawandel und zunehmender Digitalisierung...

Vom gesellschaftlichen Zusammenhalt ist nicht viel übriggeblieben, ein Dialog zwischen den verfeindeten Lagern findet kaum noch statt.