Dieselben Rechte für alle Familien?

Historische Entscheidung der Europäischen Menschenrechtskonvention

Giorgiana und Mihaela gemeinsam auf der „Cluj Pride“ | Foto: privat

„Es ist ein historischer Tag“, wiederholt Georgiana Tucan mehrmals. Sie ist sichtlich erfreut und nervös. Der 39-Jährigen verweigerte der Standesbeamte im ersten Bezirk in Bukarest im Jahr 2019 das Recht, ihre Lebenspartnerin zu heiraten – denn Homosexuelle dürfen in Rumänien nicht heiraten. Sie dürfen auch keine Partnerschaft eintragen. Doch Georgiana gab sich mit dieser Situation nicht zufrieden. Gemeinsam mit anderen lesbischen und schwulen Paaren hat sie den rumänischen Staat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) angeklagt und ihre Grundrechte verlangt. Dieser hat nun vor knapp einem Monat den insgesamt 21 gleichgeschlechtlichen Familien im Fall „Buhuceanu und andere v. Rumänien, 20081/19 und andere“ – der auch Georgianas Familie angehört – Recht gegeben. Es ist der größte verhandelte Fall zu gleichgeschlechtlichen Partnerschaften in der Geschichte der bedeutendsten europäischen Institution für Menschenrechte.

Rumänien verletzt Menschenrechte

Der Richterspruch fiel am 23. Mai, als das Gericht in Straßburg Rumänien wegen Missachtung der Menschenrechte von Homo-Paaren verurteilte. Ihr Privat- und Familienleben, das der Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert, werde hierzulande verletzt.

Konkret bedeutet das, dass Georgiana ab nun Hoffnung schöpft, in Zukunft ihre „bessere Hälfte“ Mihaela heiraten zu dürfen. Bis zu diesem Schritt jedoch muss der rumänische Staat den Rechtsrahmen schaffen, um die Privatsphäre und Identität all seiner Bürger und Bürgerinnen zu sichern, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder von ihrer Geschlechtsidentität.

„Es ist ein sehr wichtiger Schritt für den Schutz der Rechte von LGBTIQ* in Rumänien“ (Anm. d. Red.: Das Akronym LGBTQI+ steht als Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intersexuelle sowie Queers), unterstreicht die Wahlkronstädterin. 

Sie leitet seit fünf Jahren die Nichtregierungsorganisation „H-Brașov“, eine Selbsthilfegruppe, deren Ziel es ist, die lokale Gemeinschaft in Kronstadt zu fördern. 

„Die meisten Mitglieder trauen sich nicht, ihre Identität oder Orientierung öffentlich zu machen, sie haben Angst, von der Gesellschaft abgewiesen zu werden. Meist können sie sich nicht einmal vor ihrer Familie outen. Das tut weh, dich ständig vor deinen Eltern, Geschwistern, Liebsten zu verstecken, nie die Wahrheit zu sagen“, weiß sie. 

Deswegen will sie sich zusammen mit anderen Paaren und Unterstützern weiterhin dafür einsetzen, dass nicht-heterosexuelle Menschen in Rumänien dieselben Rechte bekommen wie Heterosexuelle – mit aller Entschlossenheit und Beharrlichkeit. Und so zeigt sich auch der Verein „Accept“, der seit Mitte der 1990er Jahre im Einsatz für diese Minderheit in Rumänien  ist.

Nur Grundrechte verlangt

„Wir haben niemals Sonderrechte verlangt“, erklärte Florin Buhuceanu, Vorsitzender von Accept, in einem Interview für Radio Freies Europa, „sondern nur die Rechte, die (auch andere) Familien haben“. 

Der Aktivist für Menschenrechte will nicht locker lassen, bis er seinen Lebenspartner in Rumänien nicht heiraten kann. „Es ist an der Zeit, dass wir rechtlich geschützt werden“, sagte Buhuceanu, der den Prozess gegen den rumänischen Staat gewonnen hat. In einer Pressekonferenz sprach er über Diskriminierung von Homosexuellen durch rechtliche Mittel. Das Strafgesetzbuch führe den Artikel 200 weiter, der im Kommunismus ab den 1960er-Jahren Homosexualität verbot und mit Haftstrafen von ein bis fünf Jahren ahndete. Der Artikel wurde im Jahr 2001 aufgehoben, heiraten dürfen Gleichgeschlechtliche seither aber trotzdem nicht. 

Die ungerechte Behandlung gegenüber sexuellen Minderheiten spitzte sich 2018 zu, als die Organisation „Koalition für die Familie“ (Coaliția pentru Familie) mit Hilfe vor allem der Orthodoxen Kirche und der Sozialdemokratischen Partei PSD ein Referendum zur Änderung der Verfassung einleitete. Denn darin ist geschlechtsneutral formuliert, die Familie gründe auf der „frei eingegangenen Ehe zwischen den Ehegatten“ – im schließlich fehlgeschlagenen Referendum wurde verlangt, dass die „Ehegatten“ durch „Mann und Frau“ ersetzt werden solle. 

2018 war auch das Jahr, in dem der Europäische Gerichtshof Rumänien (wie auch Polen und Ungarn) verurteilte, weil es gleichgeschlechtliche Ehen, die in anderen Mitgliedsländern geschlossen wurden, für das Aufenthaltsrecht nicht anerkennt. Das rumänische Verfassungsgericht sagte damals (im Fall Coman), dass Homo-Paare auch Familien seien und daher rechtlich geschützt werden müssen. Es folgte dennoch keine rechtliche Änderung.

Erbe, Kredite und medizinische Versorgung

Dabei braucht die LGBTQI+-Community rechtlichen Schutz – nicht nur, um sich beim Standesamt ablichten zu lassen: Es geht eher darum, dass Ehepartner das Recht auf medizinische und soziale Versorgung des Partners wie das Recht auf Erbe haben, oder leichter einen Kredit aufnehmen können. „Wenn meine Liebste sterben würde, würde ihr Vater oder ihr Bruder alles erben, was wir zusammen aufgebaut haben: Die Wohnung, das Auto, alles. Denn derzeit gelten ihr Vater und Bruder als ihre Familie, nicht ich, obwohl wir seit Jahren zusammen wohnen und eine Familie sind“, erklärt Georgiana. Sie will, dass ihre Beziehung rechtlich anerkannt wird, auch damit sie vielleicht eines Tages gemeinsam ein Kind großziehen können. „Ich will in meiner Ehe alles machen können wie alle anderen verheirateten Bürger im Land auch, wie jede Familie“.

„Wenn wir unsere Rechte nicht verteidigen, wer soll es denn für uns tun, und wann?“, fragt sich Buhuceanu in einem Interview. Er versicherte, dass er dran bleiben wird, bis die von EGMR verlangten Änderungen umgesetzt werden. Druck wird auch durch andere Prozesse gegen Rumänien ausgeübt werden, das weiß er.

Wie viele andere Paare hätte auch er im Ausland heiraten können, aber er will es in seiner Heimat tun: Damit sowohl er wie auch viele andere Familien, die aus Angst ihre Beziehung verheimlichen, wie alle verheirateten Bürger leben können. 

Verpflichtungen des Staates

Dem rumänischen Staat stehen drei Monate zur Verfügung, um den Rechtsrahmen zur Eheschließung Homosexueller in Rumänien zu schaffen. Andernfalls könnte das Land mit Sanktionen wie der Aussetzung von EU-Fördermitteln konfrontiert werden.

Ob der Staat die Änderungen in naher Zukunft tatsächlich durchführen wird, ist allerdings fraglich. Die Rumänische Orthodoxe  Kirche und Rechtsextreme (etwa der Partei AUR) sind vehement gegen eine Umsetzung des Urteils des Gerichtshofs vom 23. Mai. Sie lehnen jede Art von ziviler Vereinigung oder Partnerschaft ab. Zudem steht das Wahljahr 2024 bevor, in dem Politiker ein so sensibles Thema wie Homosexualität wohl besser aus dem Spiel lassen werden. 

Georgiana und Mihaela träumen zwar nicht von großen Wundern, hoffen aber, dass der Staat die richtigen Entscheidungen treffen wird. 

„Sobald es möglich ist, werden wir heiraten. Wir wollen im Zentralpark in Kronstadt heiraten, damit alle Leute sehen können, wie viele Unterstützer wir haben“, freut sie sich bereits jetzt.


„Die Europäische Menschenrechtskonvention schützt Menschen vor Diskriminierung – einschließlich Diskriminierung aufgrund von Ethnie, Geschlecht oder Sexualität.
Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben Opfern von Diskriminierungen Gerechtigkeit gebracht. Sie haben auch dazu geführt, dass Staaten ihre Gesetze und Praktiken geändert haben, um alle Menschen der Gesellschaft gleichermaßen zu schützen.
Beispiele sind u. a. sicherzustellen, dass die Polizei Angriffe auf ethnische Minderheiten untersucht, Frauen ausreichend vor häuslicher Gewalt schützt und Homosexualität nirgendwo in Europa eine Straftat ist.“ 

Quelle: Website des europäischen Rats


„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg ist kein Organ der Europäischen Union. Hinter dem EGMR steht der Europarat. Dort sind 46 Staaten Mitglied, die längst nicht alle in der EU sind – beispielsweise die Türkei oder Großbritannien. Der EGMR ist die letzte Instanz, an die sich Kläger wenden können, nachdem sie alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft haben.“
Quelle: Deutsche Welle