„Doch alles filigraner und gefährdeter, als ich eigentlich dachte“

Eine evangelische Theologin aus Deutschland erlebt Rumänien

Gunda Wittich in der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburg von Agnetheln
Foto: privat

Mehr als nur einmal hat die Religionslehrerin Gunda Wittich in Vorfreude auf den Unterricht einen leeren Klassenraum betreten. Eine sehr bittere Enttäuschung, vor der Lehrkräfte für Deutsch, Rumänisch und Mathematik geschützt sind. Pfarrerin Gunda Wittich, 1963 in Duisburg geboren, hat von Februar bis Juni 2019 in Hermannstadt/Sibiu ein ökumenisches Gastsemester besucht und ihren Aufenthalt in Siebenbürgen und Rumänien bis zum Sommer 2022 verlängert. Zwei Drittel ihrer Zeit am östlichen Rand der EU sind bereits verstrichen. Sie hat sich vom Schuldienst für die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) am Hermann-Gmeiner-Berufskolleg Moers beurlauben lassen und den Schritt in ein Europa krasser Binnendifferenzen gewagt, die sie von zuhause so nicht kannte.

Als Religionslehrerin hat sie im September 2019 in Hermannstadt am Pädagogischen Gymnasium, am Onisifor-Ghibu-Gymnasium und am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium mit dem Unterricht begonnen. Auf Deutsch und für Schulklassen der Lyzeums-Stufe. Auch im September 2020 war sie wieder dabei, stieg jedoch sechs Wochen später empört und endgültig wieder aus. „Trotz Hinschmeißen habe ich aber nicht aufgehört, für die Schule und den Religionsunterricht da zu sein“, unterstreicht Gunda Wittich. Noch immer ist sie Referentin der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) und Dozentin am Studiengang für Protestantische Theologie an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt (ULBS). Obwohl sie selbst nicht mehr Unterricht gibt, arbeitet sie weiter an der Sache: Kurze Zeit nach Anfang des Schuljahres 2021/2022 kam ihr „Lehrbuch für die 8. Klasse des Gymnasiums in Rumänien“ auf den Markt. Gunda Wittich freut sich für alle vier unterschiedlichen Schüler-Stimmen, die ihr neues Lehrbuch perspektivisch heterogen erscheinen lassen. Klaus Philippi hat Gunda Wittich vor dem ersten Advent gesprochen.

 

Was musste laut Lehrplan in das neue Lehrbuch für Evangelische Religion der 8. Klasse in Rumänien gedruckt werden, das Sie als Autorin im September 2021 beim Schiller-Verlag Hermannstadt-Bonn veröffentlicht haben, und was musste Ihrer Meinung nach unbedingt auch mit in das Buch hinein, selbst wenn der Lehrplan es nicht fordert?
Zu Jahresende 2019 wurde ich gebeten, ein Religions-Lehrbuch für die 8. Klasse zu schreiben. Die eigentliche Auflage lautete, dass es innerhalb von zweieinhalb Monaten fertig sein sollte. Anfangs habe ich gesagt, nein, das mache ich nicht, das kann nicht funktionieren, dabei kann keine Qualität rauskommen. Dann jedoch kam Corona, und so hatte ich Zeit, zu recherchieren und mir den Lehrplan intensiv anzuschauen. Der neue Lehrplan für Religion der 8. Klasse gilt seit zwei Jahren, als „kompetenzorientiert“. Doch ich stellte fest, dass er gar nicht kompetenz-orientiert ist. Das zum Einen. 
Außerdem fiel mir auf, dass die Gesamtstruktur dieses Lehrplanes eine klar orthodoxe ist, dass orthodoxe Grundthemen alles bestimmen. Zum Beispiel die Trinität als Jahresthema. Die ist für Evangelische auch wichtig, hat aber für die 8. Klasse im deutschsprachigen Religionsunterricht nicht dieselbe Wichtigkeit wie für die Orthodoxen. Trotzdem habe ich beim Schreiben des Lehrbuches entschieden, Trinität als Thema mit einzubauen, denn die Schülerinnen und Schüler leben doch in einem Kontext, wo die Trinität von hoher Bedeutung ist. Und die meisten sind ja selber orthodox getauft, weswegen sie auch im evangelischen Religions-Lehrbuch Zugänge zur Trinität brauchen. Nur habe ich dieses Thema jetzt kompetenz-orientiert aufbereitet. Nach Kompetenzen europäischen Standards, die im Lehrplan, den ich berücksichtigen musste, kaum zu finden sind.
Auf Seite 5 des Lehrbuches sind die allgemeinen Kompetenzen zu lesen, wie der Lehrplan sie festlegt. Es war verpflichtend, sie in das Lehrbuch zu stellen, was ich auch gemacht habe. Doch ich habe sie einfach so dastehen lassen und nicht weiter kommentiert. Von mir aber sind dort unten auf derselben Seite als Zutat die sechs bunten und aufeinander zeigenden Pfeile „Wahrnehmen“, „Teilnehmen“, „Verstehen“, „Gestalten“, „Beurteilen & Entscheiden“ und „Ins Gespräch bringen“ zu sehen. Genau das sind Kompetenzen, die in gesellschaftswissenschaftlichen Fächern international gelten und auch auf Religion heruntergebrochen werden. Nach ihnen habe ich das Lehrbuch aufgebaut.

Im 5. Kapitel „Freiheit und Verantwortung“ ab Seite 58 ist unter der Überschrift „Gott der Befreier: Zuspruch und Anspruch“ auch von Martin Luther und der Reformation zu lesen: „Eigentlich ist es das Gleiche wie vorher, aber ganz anders gedacht. Einmal ist es mit Angst und Leistungsdruck verbunden, und das andere Mal mit Freiheit und Verantwortung.“ Warum haben Sie diese zwei Begriffe „Angst“ und „Leistungsdruck“ in genau diesem Kapitel untergebracht?
Der Grundansatz evangelischen Glaubens ist der, dass wir alle so geliebt sind, wie wir sind. Aus diesem Geschenk der Liebe heraus ergibt sich die Verantwortung, andere Menschen so zu lieben, wie sie eben sind.
In der Schule habe ich trotzdem auch ganz viel Leistungsdruck und Angst erlebt. Nicht alleine bei Schülerinnen und Schülern, sondern auch unter Lehrerinnen und Lehrern. Bis gar dahin, dass auch mir Angst und Leistungsdruck gemacht wurde – ich fühlte mich aber in einer Situation, wo ich zu mir gesagt habe, nein, das lasse ich nicht mit mir machen! Wenn ein Religionsunterricht von seinen äußeren Bedingungen her nur das Gegenteil von dem bewirken kann, was er eigentlich will, dann verzichte ich lieber darauf, dann mache ich ihn nicht! Andernfalls spielten weder Freiheit noch Verantwortung, sondern nur noch Hierarchie, Angst und Leistungsdruck eine Rolle. Auch im Musik- und Sportunterricht ´dürfen gar keine schlechten Noten gegeben werden´. Noch besser umgekehrt: ´es dürfen nur gute Noten gegeben werden´. Dadurch hat man keine Möglichkeit mehr, eine Rückmeldung zu geben, die ernst genommen wird. So kann ich den Schüle-rinnen und Schülern nicht mehr sagen, wo sie im Lernprozess stehen. Und wenn ich das nicht sagen kann, ist es auch hinfällig.
Als Religionslehrerin in Deutschland bin ich als jemand bekannt gewesen, bei dem man richtig gute Noten kriegen kann. Sobald das aber in Rumänien zu einem Zwang wurde, war es nicht mehr zu handhaben. Ich konnte keine echte Kommunikation mehr mit den Schulklassen herstellen. Genau das verlangt aber eine Orientierung nach Kompetenzen. Weil es eben nicht darum geht, was ich in die Schülerinnen und Schüler hineinstopfe, sondern der Lernprozess zählt, den ich bei ihnen anstoßen kann. Wenn ich ihnen dazu aber nichts sagen darf, weil mir die formalen Mittel dafür fehlen, kann das nicht funktionieren. Dann ist das System verquer und nur noch ein Gegenteil von Bildung als lebenslangem Prozess. Der doch Spaß machen sollte, meine Güte!

Was wollten die Schülerinnen und Schüler, die Sie in Rumänien tatsächlich unterrichtet haben, am dringendsten fragen und zur Diskussion stellen?
Am allermeisten wollten sie Tabuisiertes wissen. Wie steht es mit Homosexualität und Gott? Als Pfarrerin nehme ich einen Schüler, der sich als homosexuell outet, religiös ernst. Als ich das gemacht habe, waren die sich Outenden und auch alle anderen vollkommen überrascht. 
Diese starke Erfahrung habe ich nicht erwartet, jedoch in mehreren Klassen erlebt, teils auch Abwehr dagegen. Ich habe jeweils versucht, beides miteinander ins Gespräch zu bringen und zu vermitteln, ja, der eine hat einen Anspruch darauf, geschützt zu werden, aber der andere hat auch Anspruch darauf, geschützt zu sein.
Eine andere große Frage von Schülerinnen und Schülern betraf den Leistungsdruck in der Schule. Gerade für die 8. Klasse – ´boah, wir müssen lernen, lernen, lernen, lernen, lernen!´ – ist es einfach zu viel und inhaltlich überfrachtet. Das weiß auch eine Ex-Schülerin der 8. Klasse, die ich im Lehrbuch zitiere: „In der Schule wird uns ganz viel Stoff eingetrichtert, dabei müssen wir doch lernen, wie man Probleme löst!“

Wie sind Sie in Deutschland darauf gekommen, Theologie zu studieren?
Eine gute Jugendarbeit in einer Vorstadtgemeinde hat mich dahin gebracht. Seit meiner Konfirmation hatte ich Kindergruppen und Kindergottesdienste geleitet. Im Vorbereitungskreis dafür hat uns ein Pfarrer spannend an das wissenschaftliche Denken im Umgang mit biblischen Texten herangeführt. Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre habe ich das so erlebt. Der Blick in die Gemeinden zeigte damals noch, ja, da sitzen überall Männer. Und ich fand, da könnte auch mal eine Frau hingehören. Es war nicht die einzige Motivation zum Theologie-Studium, aber gezählt hat sie auf jeden Fall. Was ich mir dabei verändert gewünscht habe, ist unterdessen auch wirklich verändert.
Nach meinem Studium habe ich zehn Jahre lang Gemeindearbeit in Düsseldorf gemacht, gefolgt von ungefähr sechzehn Jahren Dienst als Schulpfarrerin in einem Berufskolleg. Rumänien werde ich erst im Sommer 2022 zu Ende des laufenden Schul- und Universitätsjahres wieder verlassen. Obwohl meines Erachtens das Schulsystem hier nicht funktioniert, sehe ich einen Sinn darin, die Menschen, die darin arbeiten, zu bestärken – auch und vor allem darin, neue Ideen zu finden, zu durchdenken und Netzwerke zu gründen. 
Was unter anderem an dem Departement für Protestantische Theologie an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt passiert, wo das Interesse an Religionsunterricht selbstverständlich anders als an den Schulen ausfällt.

Mit was für einem Rumänien-Bild sind Sie denn in das Land gekommen? Mit welchem Rumänien-Bild wiederum werden Sie 2022 nach Deutschland zurückgehen?
Als Kind und auch später war ich mehrmals hier und kenne Rumänien deswegen schon seit den 70er-Jahren.  In den letzten Jahren vor meinem Einsteigen vor Ort im Herbst 2019 hatte sich das Bild zu einem sehr europäischen Rumänien-Bild hin verändert. Ich hatte das Gefühl, ja, ich kann da jetzt als Europäerin hinkommen, nicht unbedingt als Deutsche.
Trotzdem bin ich ein bisschen zurückgestutzt worden. Es war eben doch etwas idealistisch von mir gedacht. Aber ich möchte das Bild nicht aufgeben. Und ich wünsche auch Rumänien, dass es das nicht aufgibt. Zum ersten Mal in meinem Leben überhaupt habe ich mich als Teil einer Minderheit erlebt. Dazu gehört auch das Erleben von nationalistischen Demonstrationen. Die Anfeindung der Statue von Brukenthal ist natürlich bekloppt, aber dennoch reell. All das hat an meinem Selbstverständnis noch mal was verändert. In Rumänien ist nun eben doch alles filigraner und gefährdeter, als ich eigentlich dachte.

Welche Nachricht würden Sie auf Nachfrage an die Schüle-            rinnen und Schüler richten, die mit einem vermutlich gar nicht seltenen Einverständnis ihrer Eltern Ihren Religionsunterricht geschwänzt haben?
Ich mache nicht Schülerinnen und Schülern einen Vorwurf. Auch den Eltern mache ich kaum Vorwürfe. Mein Vorwurf geht an die Struktur der Schule. Generell erachtet sie den Religionsunterricht nicht für wertvoll. Mit Schüle-             rinnen und Schülern würde ich von Herzen gerne Religionsunterricht machen. Für sie wäre ich gerne bereit gewesen, auf Alternativen zu schauen, wäre es nur ehrlich zugegangen. Aber in dieser Form finde ich das, was und wie es in der Schule hier läuft, eine Farce. Keine sachliche Wahrnehmung, sondern immer nur eine persönliche Schuldzuweisung, also recht daneben.
Mehrmals haben Schülerinnen und Schüler und manchmal sogar Eltern, die ich nicht kannte, mir gesagt, wie gut sie das gefunden hätten. Es habe ihren Sohn gestärkt, schwärmte eine Mutter. Nur habe ich entschieden, dass es für mich in dieser Struktur nicht geht. Einzelne erreichen, das geht. Es heißt ja nicht, dass die Schülerinnen und Schüler das, was ich gemacht habe, doof fanden. Mir ging es in dem Alter doch genauso. Mir wäre nur wichtig, dass Bildung für Schüle-rinnen und Schüler da ist. Das hat mich an dem Schulsystem hier in Rumänien wirklich entsetzt, dass sie nicht im Mittelpunkt stehen. Man macht Bildung für die Zensuren, für die Lehrer, das Ansehen der Schule, für Eltern, die dies und das verlangen, aber nicht für Schülerinnen und Schüler. Keine Chance hat, wer sich vom Mainstream nur ein wenig entfernt.