„Einen Blick auf das Leben erhalten“: Reden an die Abiturienten

ADZ-Gespräch mit Dominik Holl, dem stellvertretenden Geschäftsführer der Union Stiftung

Dominik Holl ist seit Juli 2020 stellvertretender Geschäftsführer der Union Stiftung, die das Projekt „Reden an die Abiturienten“ unterstützt. Foto: Jennifer Weyland/Union Stiftung

„Guter Rat ist teuer”, sagt ein deutsches Sprichwort. Und das insbesondere für diejenigen, die sich auf das wirkliche Leben vorbereiten. Jeder von uns wird sicherlich vom Abitur geprägt, aber möglicherweise nicht so sehr von der Prüfung an sich, sondern eher vom Zeitpunkt dieser Prüfung, der das Ende einer wichtigen Lebensphase und den Anfang einer neuen darstellt. Genau um diesen Umbruch aufzuzeigen, wurde im Saarland das Projekt „Reden an die Abiturienten“ ins Leben gerufen. Jedes Jahr wird ein bekannter deutscher Autor eingeladen, um eine Rede vor den besten Abiturienten der jeweiligen Generation zu halten. Über dieses Ereignis, das in Saarland schon seit mehr als 20 Jahren stattfindet, hat Nachwuchs-Journalist Cosmin Țugui mit Dominik Holl, dem stellvertretenden Geschäftsführer der Union Stiftung, gesprochen. 

Wie ist die Union Stiftung entstanden, und in welchen Bereichen ist sie heute aktiv?

Die Union Stiftung hat eine sehr lange Geschichte, die im Saarland begründet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Saarland erst einmal politisch unabhängig und gehörte in einer Wirtschaftsunion zu Frankreich. 1955 wurde eine Abstimmung organisiert, ob dieses Konstrukt beibehalten werden sollte oder nicht. Die Saarländer haben sich dagegen entschieden, und so kehrte das Saarland 1959 zur Bundesrepublik zurück – man kann sagen, das war die erste, kleine Wiedervereinigung. 

In dem unabhängigen Saarland gab es keine politischen Parteien aus der BRD (CDU, SPD, FDP usw.), sondern nur saarländische Parteien, die aber ideologisch relativ ähnlich waren. 1954 wurden auch die Bundesparteien zugelassen. Und die saarländischen und die Bundesparteien kämpften um die Frage des Saarstatuts: Die Bundesparteien wollten das Saarstatut beenden und die saarländischen Parteien waren dagegen, indem sie sich für ein neutrales, unabhängiges, kleines Land im Herzen Europas einsetzten, in das auch die Institutionen der damals Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft verlegt worden wären. 

Die saarländischen Parteien haben die Abstimmung verloren. Infolgedessen haben sie sich aufgelöst und sind mit ihren Mitgliedern zu den Bundesparteien gekommen. Im Falle der Christlichen Volkspartei gingen die Mitglieder zur CDU, aber ohne das Parteivermögen. Aus diesen Mitteln haben sie die Union Stiftung mit dem Zweck gegründet, Demokratie, Kultur, staatsbürgerliche Bildung, internationale Verständigung uvm. zu fördern. 

Die Abi-Reden haben eine lange Tradition. Erzählen Sie mir bitte, wie ist diese Tradition in Saarland entstanden? 

Die Idee der Arbiturreden ist uralt in den deutschen oder amerikanischen Schulen. Abiturreden oder Reden an Abschlussjahrgänge sind sehr beliebt. In Deutschland gab es diese Tradition bis Mitte der 60er Jahre, dann ist sie fast verschwunden, weil man dachte, dass solche Reden anachronistisch, nicht mehr zeitgemäß seien. 

Im Jahr 1999 hat aber der Saarländische Rundfunk gesagt, das ist eine schöne Tradition, die man wieder beleben und moderner gestalten kann. Der SR hat Kooperationspartner gesucht: das Bildungsministerium, bzw. die Union Stiftung. Unsere Aufgabe als Stiftung war es vor allem, finanzielle Unterstützung bei den Druckkosten zu bieten, denn die Idee war, diese Reden von sehr berühmten deutschen Autoren zu drucken und herauszugeben. 

Die Reden werden an alle Abiturienten verteilt, aber eingeladen, an der Veranstaltung teilzunehmen, um sich die Reden vor Ort anzuhören, werden nur die Abiturienten, die die Prüfung mit Bestnoten abgeschlossen haben.

Ein Ziel dieses Projekts ist sicherlich, die zeitgenössische Literatur und Autoren den Jugendlichen näherzubringen. Was für ein Gefühl bekommt man, wenn man die Chance hat, eine solche kulturelle Persönlichkeit im wirklichen Leben zu treffen?

Im Prinzip sollte man natürlich ein einzigartiges Gefühl bekommen, aber ich glaube, es hängt trotzdem von jeder Person ab. Ein Autor kann mir persönlich fast gar nichts sagen, denn ich kenne ihn gar nicht. Es gibt so viele gute Autoren in Deutschland oder in Europa, einige sind authentische literarische Vorbilder, andere sind möglicherweise zu Unrecht quasi anonym. 

Wenn man sie kennt oder gelesen hat, ist es sicherlich spannend, sie persönlich treffen zu dürfen. Juli Zeh ist z.B. heutzutage sehr berühmt bei uns in Deutschland und es war sicherlich supertoll für die Abiturienten in 2010, sie kennenlernen zu dürfen. Die Schriftstellerin Herta Müller, die die Rede 2001 gehalten hat, war ziemlich bekannt, sie hat später auch den Nobelpreis für Literatur bekommen. 2022 hat Iris Wolff, die Autorin des ausgezeichneten Buchs „Unschärfe der Welt“, eine spannende Rede vorgetragen. 

Ansonsten geht es zuallererst um den Inhalt dieser Reden, denn man kann einen Blick auf das Leben erhalten und das aus einer originellen, literarischen Perspektive. 

Das Abitur ist meistens ein Scheideweg. In diesem Fall hat man wirklich hervorragend ein Kapitel des Lebens abgeschlossen, jetzt steht aber ein neuer Abschnitt bevor. Und zu diesem Punkt nochmals zu reflektieren, das ist die zentrale Idee dieses Projekts. Auch die Veranstaltung selbst ist sehr wichtig, weil sie die Bildungselite des Landes zusammenbringt. Man sieht, „ich habe das nicht alleine geschafft, sondern es gibt mehrere Mitschüler anderer Schulen im gleichen Boot, mit hervorragenden Leistungen“. Die Abiturienten können sich vernetzen, in Verbindung bleiben oder sogar einen Klub bilden. 

Über das Abi wurde sehr viel philosophiert. Die Schriftstellerin Juli Zeh nennt das Abitur „ein kurioses Zertifikat”. Sie sagt noch in ihrer Rede, es sei „der kürzeste Entwicklungsroman der Welt: ein menschliches Lebensjahrzehnt in einer Zahl zusammengefasst”. Thomas Mann beschrieb die Prüfung auf kritische Weise als „den seelischen Vorbereitungskurs für die Beamtenkarriere”. Wie hat sich die Situation verändert? Bleibt das Abitur weiterhin eine Prüfung, die nur Konformisten und Karrieristen „produziert”?

Thomas Mann hat in einer ganz anderen Zeit – vor dem Zweiten Weltkrieg – geschrieben. Alles hat sich natürlich sehr viel verändert, nicht nur in Deutschland, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Bildungswesen. Eine Tendenz, die in Deutschland sichtbarer wird, ist, dass immer mehr junge Menschen Abitur machen. Das kann man auf unterschiedliche Weise betrachten. Ist das Abitur wertloser geworden oder sind die Schüler besser geworden?

Infolgedessen haben wir auch mehrere junge Menschen, die ins Studium gehen. Gleichzeitig gibt es aber auch einen Fachkräftemangel. Das heißt, es gibt weniger Menschen, die Ausbildungsberufe machen. Das wandelt sich leicht in dem Moment, in dem man neue Ausbildungsformen zur Verfügung stellt, wie z.B. das duale Studium. 

Hier hat man nach der Grundschule die Möglichkeit, verschiedene Schulwege zu gehen, wie z.B. die Gesamtschule, die Realschule oder das Gymnasium. Es gibt also unterschiedliche Varianten und alle Eltern wollen natürlich für ihre Kinder die bestmögliche: Ein Gymnasium zu besuchen und das Abitur zu machen, denn diese Prüfung hatte immer einen hohen sozialen Stellenwert. Wer das Abitur bestanden hat, egal wo, egal mit welcher Note, erlangt auch einen Status. Was die Aufnahme zum Studium betrifft, gibt es auch dafür mehrere Wege, aber das Abitur ist der sicherste. Genau deshalb würde ich die Abiturienten nicht einfach Konformisten oder Karrieristen nennen. Juli Zeh hat recht, wenn sie sagt, das Abitur sei „der kürzeste Entwicklungsroman der Welt“. Ja, denn jeder schaut am Ende auf diese Zahl, aber das passiert eigentlich nur für einen bestimmten Abschnitt von wenigen Jahren: Auf dem Weg hin zum Abitur bereitet man sich vor, man kämpft untereinander, denn jeder will natürlich besser sein als die anderen oder zumindest als den einen, der am nächsten steht. 

Bei der ersten Bewerbung, wenn es um eine Ausbildungsform oder insbesondere um einen Studiengang geht, bei dem es eine Notenbeschränkung – numerus clausus – gibt, spielt noch diese Zahl eine wichtige Rolle, aber danach werden andere Dinge wichtig und kaum jemand fragt noch nach der Abi-Note. Also, das Abi ist ein Roman, der dann aber irgendwann verstaubt im Regal steht.

Jede Rede ist einzigartig, aber fast alle Schriftsteller vertreten eine eher kritische Haltung gegenüber der jungen Generation. Themen wie Individualismus, Sucht nach moderner Technologie werden oft angesprochen. Was ist die Idee hinter dieser Kritik? 

Tatsächlich hat keiner der Autoren eine Fest- oder Lobrede im klassischen Wortsinn gehalten. Es geht aber nicht nur um reine Kritik an den Schülern, sondern eher am Bildungssystem. So wären die Schüler ein bisschen entschuldigt und in Schutz genommen. Die Schüler werden auch ermutigt, aber die Idee ist, sie auch aufzuwecken, zu provozieren. Außerhalb dieses geschützten, geschlossenen Raums – der Schule – gibt es eine ganz neue Welt, wo sie diesmal allein sind. Dafür braucht man mehr als sich hinzusetzen und fürs Abitur zu lernen. 

Die Reden werden auch im Unterricht verwertet. Wie schaffen es die Lehrer, im klassischen Literaturkanon solche Texte zu integrieren?

Die Schriftsteller, hier die Abi-Redner, verwenden in diesen Reden eine frische, lockere Sprache, anders als die in den üblichen Pflichtlektüren. Die Lehrer schaffen es aus Zeitgründen nicht immer, ganze Reden ungekürzt in den Unterricht einzumischen, aber sie arbeiten mit Fragmenten, die besonders wertvoll für einen Dialog sind, der die Motivation, den Widerspruchsgeist oder die intellektuelle und emotionale Lebendigkeit der Schüler wecken sollte.

Es ist sehr spannend für die Jugendlichen, den literarischen Stil jedes Abi-Redners zu untersuchen, denn sie befassen sich jedes Jahr hauptsächlich mit dem gleichen Thema, aber die Art und Weise, wie sie die Schwerpunkte setzen, wie sie das Leben der jungen Leute und ihre Zukunft einschätzen, ist einzigartig. Fragmente aus mehreren Reden wurden zum Gegenstand schriftlicher Aufgaben, die die Fähigkeit der Schüler zeigte, den Inhalt der Reden zu gliedern oder kritisch zu hinterfragen.

Danke für das Gespräch!