„Es geht um das Zueinanderkommen, um Austausch, Kommunikation und Verständnis junger Menschen. Was könnte wichtiger sein?“

Gespräch mit Dr. Heinke Fabritius, Kulturreferentin für Siebenbürgen, über ihre Ansätze in der Jugend- und Zeitzeugenarbeit

Dr. Heinke Fabritius Foto: George Dumitriu

Die Jugendlichen unter der fast 1000-jährigen Eiche! Foto: Renate Krekeler-Koch

Sie wirkt erschöpft – und doch sprüht sie vor Begeisterung, sprudelt die Eindrücke ihrer soeben beendeten Reise mit 19 Jugendlichen durch Rumänien lebhaft heraus. Vor uns liegt, ebenso frisch aus der Druckerpresse, der Artikel von Elise Wilk (ADZ/Karpatenrundschau 18. Juli: „Vielfalt erleben“) über eine Theaterperformance als Produkt dieser Reise. Darin geht es um das Anderssein - und die Erkenntnis, dass dies nicht schlecht sein muss. Dass wir eigentlich alle ein wenig „anders“ sind. Ein wenig anders – so könnte man auch ihre Projekte bezeichnen: Schon zum Heimattag in Dinkelsbühl überraschte die Kulturreferentin für Siebenbürgen, Dr. Heinke Fabritius, als Kuratorin einer ungewöhnlichen Performance (ADZ-Online, 23. Juni: „Was bleibt, ist nur Gefühl“) im sonst so traditionsreichen Programm, was neugierig macht auf mehr. Über ihre Ideen und Ansätze, diesmal vor allem in der Jugendarbeit, sprach sie in Bukarest mit Nina May.

 

Frau Fabritius, bevor wir ins Thema springen – was gehört zu den Aufgaben der Kulturreferentin für Siebenbürgen und welches sind die Zielgruppen Ihrer Arbeit?

Das Kulturreferat Siebenbürgen wurde im November 2017 eingerichtet. Damit fand eine wichtige Erweiterung der auf der Grundlage des § 96 BVFG (also des Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetzes) von der Staatsministerin für Kultur und Medien (BKM) getragenen neun Kulturreferate statt. Das Gesetz verpflichtet Bund und Länder zur Pflege des Kulturgutes der Vertriebenen und Flüchtlinge.
Dem Kulturreferat für Siebenbürgen sind auch die Bukowina, Bessarabien, die Dobrudscha, die Maramuresch, die Moldau und die Walachei zugeordnet. Es ist angeschlossen an das Siebenbürgische Museum in Gundelsheim.
Zu den Zielgruppen des Kulturreferats gehören, neben den Siebenbürger Sachsen, auch alle anderen deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen aus den erwähnten Regionen, aber eigentlich ist die Zielgruppe die gesamte Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland, die mehr über Rumänien und insbesondere über die Geschichte(-n) der Minderheiten in diesem Land erfahren will. Und natürlich gibt es noch eine vorrangige Zielgruppe, das sind die Menschen, die heute in diesen Gebieten leben und teils den Platz der deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen eingenommen haben.Im Falle der Siebenbürger Sachsen ist mir wichtig, nicht nur die organisierten Gruppen anzusprechen, sondern auch jene, die nach Deutschland ausgereist sind, sich aber nicht den Verbänden angeschlossen haben.

Sie haben die Ausstellung von Marc Schroeder mit Porträts von Zeitzeugen der Deportation nach Sighetul Marmației und Hermannstadt gebracht. Nun zeigen Sie diese – erstmals von Ihnen mitkuratiert – in einer ganz anderen Form in einer Stuttgarter Kunstgalerie und in Kombination mit einem interessanten Jugendprojekt. Worum geht es dabei? 

Die Ausstellung in Sighet habe ich gefördert, die in Hermannstadt nicht. Aber zu Stuttgart: Es ist diesmal keine Dokumentationsausstellung wie in Sighet, die sprachlichen Zeugnisse bleiben außen vor. Wir wollen nur die Bilder, d.h. die während der Interviews von Marc Schroeder aufgenommenen Fotografien, sprechen lassen. Gezeigt werden die Zeitzeugen einerseits in expliziten Porträts, aber auch in Interimsbildern, beim Erzählen. Differenzen sollen erfahrbar werden: Wann ist der Mensch ruhig, gefasst angesichts seiner Geschichte, wann emotional und ganz in der Erinnerung gefangen? Als dritte Gruppe werden kleine Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Alltag gezeigt: die Zeitzeugen beim Kaffeekochen oder beim Vögelfüttern. Es sind also drei Bildergruppen. In diese mischen sich zudem Landschaftsaufnahmen, die Marc Schroeder 2012 bis 2015 während seiner Reise aus dem fahrenden Zug aufgenommen hat. Sie bieten im echten Sinne des Wortes Raum für die Einfühlung, das Nachempfinden, vielleicht auch Verstehen.

Es geht insofern bei dieser Präsentation nicht nur um die Vermittlung von Informationen über die Deportation, sondern auch um das Motiv des Erinnerns selbst, also den Zeitzeugen auch anderer Ereignisse ein Ohr zu geben. So findet am Tag nach der Ausstellungseröffnung ein Workshop mit Marc Schroeder statt, der für Jugendliche und ihre Großeltern gedacht ist und die Techniken des dokumentativen Fotografierens in den Mittelpunkt stellt. Dabei sollen die Jugendlichen darauf aufmerksam werden, dass sie im Gespräch mit ihren Großeltern die Chance haben, etwas über Geschichte als tatsächlich gelebte und erlebte Vergangenheit zu erfahren. Dieses Zuhören kann aktiv von den Jugendlichen gestaltet werden. Es gibt Techniken des Zuhörens und des Dokumentierens. Zudem haben die Jugendlichen ja Smartphones, sie können alles fotografieren und filmen. Es muss nicht über Deportation gesprochen werden. Es geht um das Wachmachen für Zeitzeugen. Wie kann ich meine Großmutter fotografieren, wie will ich sie zeigen, nachdem sie mir dies oder jenes erzählt hat? 

Wie kam es zu dieser Idee?

Ende April gab es von der Siebenbürgischen Jugendorganisation SJD einen Zukunftsworkshop in Bad Kissingen. Da habe ich das Ausstellungsprojekt von Marc Schroeder vorgestellt. Die meisten Jugendlichen, die teilgenommen haben, sind in Deutschland geboren, viele kennen Siebenbürgen nur über Tanzgruppen, Dinkelsbühl und durch das Erzählen bzw. das Schweigen der Eltern und Großeltern. Es gibt auf jeden Fall ein ganz klares Bedürfnis nach Verortung und Verstehen. Deshalb kommen die jungen Leute zu so einem Workshop. Manche von ihnen lernen sogar Sächsisch von der Großmutter. Das ist doch toll. An den Universitäten wird über den Erhalt und das Dokumentieren von Mundarten nachgedacht. Hier geschieht das auf ganz praktischer Ebene. So habe ich mir gedacht, es wäre gut, ein Projekt anzubieten, in dem Methoden des Fragens, Zuhörens und Dokumentierens im Mittelpunkt stehen. Dass das dann auch noch die Generationen übergreift, ist ein zusätzlicher Gewinn. 

Sie haben eine Jugendreise durch Rumänien initiiert, mitorganisiert und begleitet, mit neun Jugendlichen aus Deutschland und zehn aus Rumänien, die dann in Kronstadt eine Theaterperformance aufführten. Was war Ihr Motiv dafür und wie gestaltete sich das Programm?

Zunächst ging es darum, einen starken und in der internationalen Jugendarbeit erfahrenen Kooperationspartner zu finden. Das ist mir gelungen in der Zusammenarbeit mit dem Ludwig Wolker-Haus und in Person von Renate Krekeler-Koch. Besser hätte es nicht sein können. Die finanzielle Umsetzung konnte durch Förderung aus dem EU Förderprogramm „Erasmus+“ und durch die BKM sichergestellt werden.    Inhaltlich ging es nicht darum, ein fertiges Theaterstück zu spielen oder überhaupt eines zu spielen, sondern etwas zu entwickeln, das im Grunde durch Begegnung entsteht: in der Fremde Ankommen, Sich-Austauschen, vielleicht nur nonverbal kommunizieren. Die Frage war also eher: Was ist heute unser gemeinsamer Boden? Der common ground, wie Yael Ronen das eindrücklich am Berliner Gorki-Theater gezeigt hat. Im Besonderen aber sollte auch die ethnische Vielfalt in Siebenbürgen ein Thema sein: Wie gehen wir damit um? So haben wir in Rumänien einen weiteren Kooperationspartner gesucht und im Honterus Alumni Club Kronstadt mit Petra Antonia Binder gefunden, dann zu dritt überlegt, wie wir jungen Menschen diesen Reichtum Siebenbürgens und Rumäniens vermitteln und sie damit vertraut machen können.

Wir waren drei Tage in Klausenburg, dann in Katzendorf, Kronstadt und Bukarest. Auf dem Programm standen Stadtführungen mit Paul Binder durch Klausenburg, Kronstadt und Bukarest, Gespräche, aber eben auch das gemeinsame Theaterspielen und Akrobatik.
Wir reisten mit dem Zug und teilweise mit einem gemieteten Bus. In Kronstadt wohnten die deutschen Teilnehmer nicht wie sonst in Hostels, sondern drei Nächte bei den Familien der dortigen Jugendlichen. Im September steht dann der Gegenbesuch der rumänischen Jugendlichen an: vier Tage Berlin, ein Tag Greifswald, vier Tage Stralsund. 

Wie bringt man so unterschiedliche Teilnehmer zusammen?

Das war der theaterpädagogische Ansatz:  Wir wollten Begegnungen haben, Barrieren durch Spiel und Theater abbauen. Es waren zehn Jugendliche aus dem Honterus-Lyzeum, die alle in der Theatergruppe von Frau Binder aktiv sind und Deutsch sprechen. Sie kannten sich seit zwei Jahren und hatten eine feste emotionale Bindung. Die Deutschen, teils Berliner, teils Stralsunder, kannten sich nicht und mussten erst zueinander finden. Altersmäßig waren alle zwischen 16 und 20. Auch die Theaterpädagoginnen Mirona Stanescu aus Klausenburg und Tania Freitag aus Berlin kannten sich nicht. Der erste Tag war insofern eine Herausforderung und manchmal auch ein Wagnis.

Sie erzählten, dass in Katzendorf auch die Dorfjugend zu den Theaterproben eingeladen war. Wie hat man sich dort verständigt?

Wir sagten: Alle, die in den Sommerferien da sind, können mitmachen. Die Jugendlichen des Ortes waren vorinformiert und kamen, auch drei Roma haben mitgemacht. Wir haben Akrobatik geübt, denn es war klar, dass wir auf Deutsch als unsere Kommunikationssprache und die Theaterübungen der Vortage verzichten mussten. Es hat in Katzendorf viel geregnet, es wurde aber aus Platzgründen dennoch sehr viel draußen gearbeitet - mit einer Riesenfreude und Begeisterung! Es fing an mit klassischen Übungen zum Vertrauen: Ich lasse mich rückwärtsfallen, du fängst mich auf. Ich vertraue dir, auch wenn wir uns gerade erst kennengelernt haben. 
 
Kam denn irgendwann so etwas wie Nähe auf? 

Ja, es gab sehr bewegende Momente. Die meisten Teilnehmer haben in unserer Abschlussrunde einen Besuch bei den tausendjährigen Eichen in der Nähe von Katzendorf erwähnt. Eine der größten Eichen ist mit einem Holzzaun umgeben, und es brauchte alle Jugendlichen, um den Baum zu umfassen. Dann hat Theaterpädagogin Tania Freitag eine Meditation gesprochen. Es ging darum, die Stille zu empfinden und die Kraft des Baumes. Wir haben also diese Meditation eingefordert, und es war schon ganz stark, einfach nur zuzuschauen und zu sehen, mit welcher bedingungslosen Konzentration das geschah. Danach saßen wir alle im Kreis, und dann ging ein Gespräch los, das eine Intensität und Offenheit hatte, die, so glaube ich, ohne diesen Ort, der als mystisch und kraftvoll erfahren wurde, nicht möglich gewesen wäre. Für uns alle war das einer der stärksten Reiseeindrücke. 

Worum ging es in dem Gespräch?

Es wurde gefragt, wie ihnen die Reise bisher gefiel, wie sie ihre Begegnung miteinander wahrnähmen, was sie erwartet hätten und was nun tatsächlich geschehen sei... Von rumänischer Seite wurde erwähnt, wie gut es sei, dass wir uns auf Augenhöhe begegneten, weil offenbar viele Angst hatten, dass das vielleicht nicht gelingen würde. Das hat mich erstaunt. Ich dachte, sowas gehöre der Vergangenheit an, aber dem war nicht so. An diesen Dingen zu arbeiten, ist grundlegend. 

Worüber zeigten sich die Deutschen beeindruckt?

Zum Beispiel über die Vielfalt und den Artenreichtum der Natur. Oder über den Blick in eine Landschaft ohne Telegrafenmasten oder andere menschliche Zeugnisse. Einige haben angefangen, Blumen zu pflücken, viele haben sich Haarkränze geflochten. Sie waren begeistert.
Dann kam etwas Überraschendes: Die deutschen Jugendlichen erklärten, wie überrascht sie darüber seien, dass hier in Rumänien der deutschen Sprache ein so großer Stellenwert zukomme. Für sie, die ja zum ersten Mal in Rumänien waren, war es etwas ganz Erstaunliches, dass es hier Jugendliche gibt, die Deutsch lernen wollen und einen Austausch auf Deutsch anstreben. „Rumänien ist nicht so exotisch, wie wir dachten“, so haben sie es ausgedrückt. 
Beide Seiten bemerkten, dass man sich eigentlich viel näher sei als erwartet. Und einige sagten in der Abschlussrunde, es könnte für sie eine Option in der Zukunft sein, in Rumänien ein freiwilliges soziales Jahr zu machen.

Gab es andere überraschende Momente?

Es gab zum Beispiel einen, den einer der Jugendlichen ebenfalls in der Abschlussrunde erwähnte. In Klausenburg sollten Interviews zum Thema Europa als common ground auf der Straße geführt werden, auf Rumänisch oder Englisch, was aber aufgrund der Semesterferien nicht so gut geklappt hat, denn die Studierenden als nahezu gleichaltrige Ansprechpartner fehlten. Trotzdem erzählte einer der Jugendlichen, ein älterer Rumäne habe ihm gesagt, es sei das Schönste für ihn, dass es solche Jugendreisen gäbe. Davon hier und heute gehört zu haben und jetzt sogar angesprochen worden zu sein, wäre für ihn ein gutes, optimistisch stimmendes Signal. Das ist nicht eigentlich überraschend, aber ein Feedback das bestätigt. 

Wie wichtig sind solche Jugendreisen?

Sie sind grundlegend. Es geht um das Zueinanderkommen, um Austausch, Kommunikation und Verständnis junger Menschen. Was könnte wichtiger sein? Es kann nicht genügend Förderung dafür geben.