Fleißig und blöd?

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Viel wird über Werte diskutiert – und auch über den Verlust derselben. Doch Werte liegen im Geist der Zeit – und im Auge des Betrachters. Nicht zuletzt sind einige regional und kulturell verschieden geprägt. Wir Deutschen, sagt man uns nach, lieben Fleiß, Pünktlichkeit, Ordnung und Sauberkeit. Spanier, Italiener oder Griechen hingegen lieben mittags zwei Gläser Wein und dann erst mal ausgiebig Siesta. Von daher schon bin ich überzeugt, heimlich adoptiert zu sein: Für ein Glas Rotwein lasse ich freudig jeden Putzlappen liegen. Was kann das anderes sein als die Macht der Gene?

Sind Südländer nun faule Kerle – oder bewundernswert entspannte Lebenskünstler, von denen sich die Burnout-gefährdeten Karriereradstrampler eine Scheibe abschneiden sollten? Ist Fleiß eine Tugend? Oder ist es Dummheit, wenn man sich abrackert, nur aus Prinzip? Muss man ausgerechnet an Ostern die Wohnung putzen – oder darf man nach einem langen Winter stattdessen die Sonne genießen, wenn sie sich denn endlich mal wieder raustraut, und die Haut Vitamin D produzieren lassen, damit man keinen Krebs bekommt? So begründe ich jedenfalls vor meinem Gatten, warum es bei uns zuhause staubig bleibt, wenn das Wetter in den Garten lockt.
Auch Höflichkeit ist eine Tugend – nicht unbedingt die der direkten Deutschen. Rumänen hingegen lieben ellenlange, blumige Grußformeln, nie dürfen dabei Gesundheitswünsche fehlen, und erwähnt man Kinder oder Enkel, hat der andere mit einem „viele Jahre sollen sie leben“ aufzuwarten, ja, selbst der neu gekaufte Kühlschrank wird mit einem „lang soll er halten und glücklich soll man ihn benützen“ beglückwünscht. Da steht man als Deutscher nur wie betäubt daneben, unfähig, auch nur annähernd Gleichwertiges zu erwidern. „Holzklotz!“, mag der andere denken.

Tja, und wie steht’s mit Pünktlichkeit? Großartig für den, der zu spät kommt! Der Pünktliche mag sich fragen, wieso immer er der Depp ist, der auf alle anderen warten muss.
Was lernen wir daraus? Alles ist relativ. So manche kluge Lebensweisheit zeigt: Eindeutige Werte gibt es nicht: „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Aber der Wurm, der wäre wohl besser noch liegen geblieben.
Kann Faulheit eine Tugend sein? Na klar! Die Erfindung des Rasenmähers zum Draufsitzen, des Staubsauger-Roboters, der selbstständig durch die Wohnung wienert und dann zur Ladestation zurückfindet, des vollautomatisierten Futterspenders oder der Pelletzufuhr für die Heizung – sind das nicht Früchte jener, die zu faul sind, selbst zu mähen, zu kehren, den Futternapf zu füllen oder ein Scheit nachzulegen? Oder warum sonst würde man so etwas erfinden? Und die Faulheit anderer fördern. Oder die Effizienz? Denn Arbeiten an Geräte zu delegieren, lässt Zeit für wichtigere Dinge.

Braucht man also feste Werte, die man hochhält und erzieherisch weitergibt? Soll man Kinder damit traktieren, um jeden Preis? „Räum dein Zimmer auf, sonst gibt’s kein wasweißich!“ „Um Punkt zehn bist du zuhause!“ „Iss den Teller leer, damit du groß (und dick) wirst“. Oder stellt sich das richtige Maß an allem – Faulheit oder Fleiß, akribische Ordnung oder gemütliche Nachlässigkeit, steife Höflichkeit oder entspannte Lockerheit – irgendwann ganz von allein ein, je nach Situation? Die Frage ist schwer zu beantworten.

Doch einen Denkanstoß liefert folgende Geschichte: Meine zweieinhalbjährige Großnichte Veronika ist sprachlich sehr effizient, um nicht zu sagen, maulfaul. Sich selbst nennt sie „Odi“, obwohl kein Mensch jemals ihren Namen abkürzt. Wenn sie essen möchte, sagt sie nur ganz bestimmt „ham!“ und deutet auf das Gewünschte. Wenn man ihre Lieblings-Hundecomicserie einschalten soll, genügt ein bittendes „wauwau?“ Dann gehört noch „kascha“ zu ihrem Repertoire, das ist Russisch und bezeichnet jede Form von süßem Brei. Ein klagendes „kaaa-schaaa“ lohnt sich, wenn die Mama versucht, stattdessen Nudeln in sie hineinzustopfen. Veronika versteht alles – doch sie wächst zweisprachig auf, da muss man schon haushalten mit seinen linguistischen Kräften. Zum Sprechen von ganzen Sätzen zwingt sie niemand. Ich begann langsam, mir deswegen Sorgen zu machen. Bis ich bemerkte, dass sie durchaus in der Lage war, sprachtechnisch vollen Einsatz zu leisten – wenn es ihr nur wichtig genug war. Zum Beispiel zur Vorweihnachtszeit im Supermarkt vor dem Süßigkeitenregal. Unterstrichen mit einem beeindruckenden Tobsuchtsanfall auf dem Boden demonstriert sie plötzlich einwandfreies Deutsch: „Ich will den S-c-h-o-k-o-l-a-d-e-n-n-i-k-o-l-a-u-s!!!“