Giorgia Melonis Balance-Akt

Giorgia Meloni im Februar 2022 auf der CAPC (Convention of American Conservatories) Foto: CAPC/Flickr

Partisanen der italienischen Resistenza während des 2. Weltkriegs. Mit 200.000 bis 250.000 aktiv kämpfenden Partisanen zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung im April 1945 stellt die italienische Resistenza die zahlenmäßig stärkste Partisanenbewegung in West-europa während des Zweiten Weltkriegs dar, nach der jugoslawischen die größte in Europa. Der Widerstand gegen den Faschismus und dessen Überwindung stellte die idelle Grundlage für die 1947 verabschiedete republikanische Verfassung Italiens dar. Foto: ANPK Palermo


Als Giorgia Meloni am 25. Oktober ihre Antrittsrede im italienischen Parlament hielt, wusste man, nicht, wem man Glauben schenken sollte: der Sprache oder der Körpersprache, der Botschaft oder der Wortwahl. Meloni, eine ehemalige Bewunderin Benito Mussolinis und jugendliche neofaschistische Aktivistin, deren Partei Fratelli d’Italia die neue Regierungskoalition anführt, herrscht nun über die zerfallende politische Klasse eines alternden Landes. Wie beabsichtigt Italiens erste (und, mit 45 Jahren, zweitjüngste) Ministerpräsidentin, die von einer alleinerziehenden Mutter in einem der sozialen Brennpunkte Roms großgezogen wurde, ein Land zu regieren, das für seine geringe soziale Mobilität und die zweitniedrigste weibliche Beschäftigungsrate in der Europäischen Union bekannt ist?

Meloni hat sich selbst als „Underdog, der die Prognosen auf den Kopfgestellt hat“ bezeichnet und hinzugefügt: „Ich plane, es wieder zu tun.“ Doch wie immer bei Meloni ist entscheidend, was zu betrachten man beschließt. Form und Inhalt stehen so stark im Widerspruch zueinander, dass Gemäßigte wie Rechtsextreme etwas finden können, was ihnen zusagt. Die scharfen Gesten, feurigen Augen, das Schreien ins Mikrofon sind sämtlich typisch faschistische Stilelemente. Aber dann zitiert sie Montesquieu und bestreitet, je irgendwelche Sympathien für illiberale Regime gehegt zu haben – selbst nachdem sie Ungarns autokratischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán als Ehrengast zu den beiden letzten Jahrestagungen ihrer Partei einlud.

Einigung statt Widerstand

Die erste Verordnung ihrer Regierung zeigt die Kluft zwischen ihrem Hintergrund und dem, was sie in einer konstitutionellen Demokratie denkbar erreichen kann. Vorgeblich mit dem Ziel, Technopartys zu verhindern, belegte die Verordnung Teilnehmer nicht genehmigter Versammlungen von mehr als 50 Personen mit einem Strafmaß von bis zu sechs Jahren Haft, sofern diese Versammlungen als „gefährlich“ einzustufen seien. Der Sturm der Entrüstung, der hierauf – selbst in Teilen ihrer Koalition – folgte, wird sie zu einem Rückzieher zwingen.

Melonis Wortschatz und historische Verweise scheinen sämtlich, als seien sie einer anderen Zeit entnommen: „Nation“ und „Mutterland“ ersetzen nun „Land“, „Patriot“ bedeutet für sie und ihre Anhänger nun, was andere womöglich als „rechte Chauvinisten“ bezeichnen würden, und die italienische Einigung in der Mitte des 19. Jahrhunderts wird plötzlich entstaubt, um die Resistenza – den antifaschistischen Volksaufstand der Jahre 1943-45, der half, Mussolini und Nazideutschland zu besiegen – als nationalen Gründungsmythos zu ersetzen.

Konventionelles Deckmäntelchen?

Während Italiens Ministerpräsidentin den Eindruck erweckt, dass sich die politischen und kulturellen Grenzen verschieben, versteht sie zugleich, dass sie es sich finanziell und politisch nicht leisten kann, Italiens EU- und NATO-freundlichen Kurs aufzugeben. Daher versucht sie, zugleich revolutionär und konventionell zu klingen und dabei ihre vergangenen Neigungen zu korrigieren. Im Jahr 2018 gratulierte sie Wladimir Putin zu seinem „eindeutigen“ Sieg bei Russlands unfreien und unfairen Präsidentschaftswahlen. Noch im Juni 2021 stellte sie in Frage, ob es klug sei, am Euro festzuhalten.

Doch sobald sie ihr Regierungsmandat sicher hatte, signalisierte sie Kontinuität mit einem Großteil dessen, wofür die technokratische Regierung des früheren Ministerpräsidenten Mario Draghi stand. Sie verkündete ihre Treue zum westlichen Bündnis und versprach, weiterhin die Ukraine zu unterstützen. Sie schwor, „innerhalb der europäischen Institutionen zu arbeiten … nicht, um bei der europäischen Einigung auf die Bremse zu treten, sondern um dazu beizutragen, diese bei der Bewältigung der heutigen Krisen und externen Bedrohungen effektiver zu machen“. Zwar kritisierte sie die Straffung der Geldpolitik durch die Europäische Zentralbank, aber sie sagte zu, sich an die EU-Regeln zu halten, da, so ihre Begründung, „nur ein Land, dass die Regeln uneingeschränkt respektiert, über ausreichend Autorität verfügt, zu verlangen, dass die Kosten der internationalen Krise gleichmäßiger verteilt werden“.

Melonis Balance-Akt ist beschwerlich, und ihr Hinweis auf die Ukraine legt nahe, dass der Krieg ein Lackmustest ist. Indem sie sagt, dass die Kosten der „internationalen Krise“ gleichmäßiger verteilt werden müssen, signalisiert sie, dass Italien eine Entschädigung für das wirtschaftliche Opfer der Umsetzung von Sanktionen gegenüber Russland verlangen könnte. Doch ihr wahres Ziel besteht in der Quadratur des Kreises innerhalb ihrer rechten Koalition und Wählerbasis.

Ihre Partner hegen enge Bande mit Putin

Ihre Regierungspartner, Matteo Salvini von der Lega und Silvio Berlusconi von der Forza Italia, sind offen viel russlandfreundlicher eingestellt. Als Berlusconi Ministerpräsident war, unterzeichnete Gazprom große, langfristige Verträge mit Italien, darunter 2005 einen wichtigen Vertrag mit einem Unternehmen, das keine früheren Erfahrungen in der Gasbranche hatte, aber dessen Eigentümer ein Freund der Berlusconi-Familie war. Was Salvini angeht, so ist dessen Partei dem Vereinigten Russland seit Langem durch eine offizielle Partnerschaft verbunden, und ein enger Verbündeter Salvinis wurde dabei aufgenommen, wie er 2018 in Moskau Finanzgeschäfte diskutierte.

Meloni hat sich von derartigen Verstrickungen distanziert und wiederholt ihre Unterstützung für die Ukraine geäußert. Doch sie muss wissen, dass sie ihre Unterstützer in dieser Frage nicht hinter sich hat. Laut einer aktuellen Ipsos-Umfrage stehen 12 Prozent der Wähler der Fratelli d’Italia aufseiten Russlands – der höchste Anteil unter allen Parteien. Ein Anlass zu größerer unmittelbarer Besorgnis ist, dass 51 % von Melonis Wählern die Sanktionen gegen Russland ablehnen, und dass 71 Prozent  glauben, dass Sanktionen „unwirksam“ sind.

EU-Kommission zwingt Italien, Stellung zu beziehen

Bei dem Bemühen, ihre Marke des weit rechts stehenden Nationalismus ins Herz der EU und der westlichen Institutionen zu tragen, muss Meloni daher gefährliche politische Gewässer navigieren. Es wird ihr jedoch nicht lange gelingen, sich dabei unbeobachtet durchzumogeln. Die EU-Kommission hat Verfahren eingeleitet, die EU-Gelder Polens und Ungarns wegen der Angriffe ihrer Regierungen auf die demokratischen Institutionen einzufrieren. Italien wird hierzu Stellung beziehen müssen, und zwar u. a. bei einer Abstimmung in diesem Monat im EU-Rat über Gelder für Ungarn. Doch sowohl Orbán als auch Polens herrschende Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) betrachten Meloni als Verbündete und erwarten ihre Unterstützung, insbesondere da sie Parteivorsitzende der Europäischen Konservativen und Reformer ist, denen auch die PiS angehört.

Falls Meloni sich auf Seiten Ungarns und Polens stellt, signalisiert sie damit, dass Italien sich inzwischen politisch weit von den Kernländern der EU entfernt hat; eine derartige Haltung könnte angesichts der hohen Staatsverschuldung des Landes sogar das Misstrauen der Finanzmärkte anheizen. Melonis Dilemma ist, dass sie, wenn sie sich auf die Seite der EU-Kommission stellt, eine umfassende Neuausrichtung hin zur politischen Mitte auslösen könnte, statt als fest am Rande des rechten Spektrums verwurzelte Nationalistin Legitimität innerhalb der EU-Institutionen zu gewinnen. Sie dürfte daher versuchen, der Frage komplett auszuweichen.

Sicher ist, dass Meloni der Präsidentschaftswahl 2024 in den USA entgegenblickt. Mit Donald Trump oder einer ähnlichen Person im Weißen Haus hätte sie machtvollere Freunde, um das bestehende Machtgleichgewicht innerhalb der EU in Frage zu stellen. Eine Entente cordiale zwischen einem nationalistischen Italien, Polen, und Post-Brexit-Großbritannien könnte genau das sein, was ein von den Republikanern besetztes Weißes Haus sich für Europa wünscht. Die EU allerdings würde dadurch deutlich geschwächt. (©Project Syndicate)

Aus dem Englischen von Jan Doolan