Gleichaltrigen helfen und dabei selber lernen

Kronstädter Jugendliche entdecken ihre Empathie für Flüchtlinge und von der Gesellschaft Benachteiligte

Die Jugendlichen von „Kastel Youth” in ihren gelben T-Shirts | Foto: die Verfasserin

Es riecht gut in dem Glasbau „Waters” im Neubauviertel Coresi-Avantgarten in Kronstadt/Brașov. Seit Anfang März kommen rund 80 ukrainische Minderjährige sechsmal die Woche in das Gebäude und lernen dort Rumänisch, spielen, tanzen Zumba, singen, malen, basteln; sie werden auf andere Gedanken gebracht. Als Dank für diesen Einsatz haben deren Mütter am 2. April die Kronstädter, die ihnen beigestanden haben, zu einem Festessen eingeladen. Über hundert Gäste haben die traditionellen ukrainischen Gerichte, die die Ukrainerinnen in einem Restaurant der Stadt zubereiten durften, ausprobiert: gekochter Buchweizen mit Pilzen, Käse-Fleisch-Täschchen oder Rote-Bete-Salat mit Walnüssen, getrockneten Pflaumen und Knoblauch. „Sie müssen unbedingt den Borschtsch ausprobieren, das ist eine Suppe, die traditionell mit roter Bete und Weißkohl zubereitet wird und sehr sättigend ist”, lockt eine blonde Frau. Sie spricht, wie manche ihrer Landsleute, ein bisschen Englisch. Die Krönung zum Dessert: „Warenyky“, mit Mohn oder Sauerkirschen gefüllte Teigtaschen, die mit Sauerrahm serviert werden. 

280 Freiwillige im Einsatz

Die meisten der Bewirteten sind Kronstädter Jugendliche, die Tag für Tag den Geflüchteten aus der Ukraine helfen. Nach dem Unterricht arbeiten sie im Rahmen des Vereins „Kastel Youth” mit Kindern aller Altersstufen. Einige von ihnen freuen sich auf die Spiele mit den ganz Kleinen, andere finden Aktivitäten mit Gleichaltrigen anziehender. Anhand von Spielen bringen sie den Flüchtlingen die rumänische Sprache bei. „Es ist wichtig, Grundkenntnisse in unserer Sprache zu haben, damit sie sich in der Stadt zurechtfinden”, sagt Sorina Iordache, die Leiterin des Vereins. Die 18-Jährige verbringt montags bis samstags jeden Nachmittag bei „Waters”, wo sie die Aktivitäten der Volontäre koordiniert. Sie gibt klare und kurze Anweisungen zum Programm und den Tätigkeiten und spornt die Kollegen an, selber mit Ideen aufzukommen. Die besonnene Sorina schafft eine Atmosphäre, in der sich die rund zwei Dutzend Teenager, die täglich beim Projekt mitmachen, frei entfalten und kreativ einbringen können. Insgesamt wechseln sich über 280 Volontäre bei den Tätigkeiten des Vereins ab, ihre Zahl steigt ständig. 

Freundschaften entstehen

Bei der Kostprobe am 2. April sind sie nur als Gäste da. Sie probieren Leckereien und erzählen. Sobald das Essen beendet ist, singen sie gemeinsam mit den ukrainischen Kindern deren Hymne, die sie einige Tage lang geübt haben. Geflüchtete Mütter wischen sich Tränen aus den Augen. Virginia Alexandrescu, Sorinas Mutter, Gründerin und Leiterin des Vereins „Kastel” ist auch gerührt. Sie hat in der Nacht vom 2. März die ersten ukrainischen Familien in einer neuen Wohnanlage im Coresi-Avantgarden-Viertel untergebracht, in der sogenannten „Kaspar“-Wohnanlage. Damals hat sie Katja (Name von der Redaktion geändert) kennengelernt, die gemeinsam mit Tochter und Ehemann geflüchtet war. Ihr folgten Verwandte, Kollegen oder Bekannte. Mittlerweile wohnen in 50 Wohnungen über 100 Ukrainer, von Babys bis hin zu Omas. Einige Männer, die ihre Familien hier in Sicherheit gebracht haben, sind zurück an die Front gegangen. 

„Es sind schon 40 Tage seit wir hier sind. Vierzig!” betont Katja und umarmt Virginia, zu der sie eine enge Beziehung entwickelt hat. In einem Selfie halten sie den Moment fest. Katja schickt das Bild ihren Verwandten, die daheim geblieben sind.

„Es war alles so grün zuhause“

Bei der Kostprobe, sowie bei allen Aktivitäten, sind immer auch einige ukrainische Mütter als Freiwillige anwesend. Sie waschen das Geschirr ab oder hüten die ganz Kleinen. Meist schauen sie ins Telefon oder unterhalten sich miteinander. Die Nachrichten von Zuhause sind nicht gut, sie können die Geschehnisse im Heimatland kaum verarbeiten. „Es war alles so grün Zuhause. Wir hatten so viel Grün”, wiederholt eine Frau mit roten Wangen. Sie zeigt Fotos von ihrem Haus, erzählt über ihr Dorf, über ihre Liebe zum Radfahren und über die grünen Bäume. Ihre Stimme und Lächeln verbergen Sehnsucht und Wärme, Kummer und Leid. 

Niemand weint bei „Waters”. Die Kinder und Jugendlichen spielen. Eltern und Großeltern informieren sich über die Gräuel in der Ukraine, versuchen aber, ihr Leben weiterzuführen, bis sie wieder nach Hause können. Manche suchen sich bereits Arbeitsstellen in Kronstadt, oder sie bringen sich freiwillig in der Gemeinde ein, jeder wie er kann. „Wir sind wirklich Glückspilze, dass wir so gut hier aufgenommen wurden. Ich habe eine Arbeitsstelle gefunden, nun will ich die Kinder in der Schule einschreiben, sie verbringen den ganzen Vormittag alleine im Haus”, meint Anna aus Odessa. Ihre Mutter ist nicht geflüchtet, Anna sorgt sich um sie. 

Schnell und effizient

„Am Donnerstag hat der Krieg begonnen, am Freitag suchten wir schon nach möglichen Unterkünften und Lebensmitteln für die Flüchtlinge, die nach Kronstadt kommen sollten. Am Samstag hatten wir bereits 50 Schlafplätze, am Sonntag neun Tonnen Essen”, erzählt Virginia Alexandrescu. Sie sichert den Bewohnern der „Kaspar”-Wohnanlage Frühstück und Abendessen, sowie 100 warme Mahlzeiten für die Freiwilligen im Flüchtlingszentrum Cattia. Ihre Tätigkeit in ihrem Schönheitssalon hat sie zeitweilig eingestellt, um sich voll auf die Unterstützung der Ukrainer zu konzentrieren.

Unmögliche Wörter lernen

Während Virginia und die geflüchteten Frauen sich nach der Kostprobe fotografieren lassen, spielen die rumänischen und ukrainischen Teenager ihr Lieblingsspiel: unmögliche Wörter lernen. Sie müssen schwer aussprechbare Wörter in der Sprache der Anderen richtig wiederholen. „Paralelipiped” (Parallelepiped) war wohl eines der schwierigsten. Es scheint nicht leicht zu sein, bringt aber Lachen in die Runde. Viele verstehen sich recht gut miteinander, treffen sich auch außerhalb von „Waters”. Nach einer ersten gelungenen Wanderung auf der Zinne/Muntele Tâmpa, planen rumänische und ukrainische Jugendliche weitere Wanderungen in der Umgebung und ein Ferienlager im Sommer.

Erziehung ist der Schlüssel

Die Wohltätigkeitsaktionen für Jugendliche sind Sorina Iordache zu verdanken. Sie ist mit Freiwilligenarbeit aufgewachsen, hat bei den Hilfsprojekten ihrer Mutter ständig mitgeholfen. Bedürftige Familien bekommen dort Nahrung, Kleidung und Erziehung. Alexandrescus Verein „Kastel” setzt sich für das Vorbeugen der Jugendkriminalität ein und unterstützt Benachteiligte darin, ein Ziel im Leben zu finden und dieses auch zu erreichen. „Wir müssen diesen Leuten helfen. Sie haben keine Möglichkeiten und eben deswegen zeigen wir ihnen, dass sie ihre Situation verbessern, ja sogar ändern können. Das geht nur durch Erziehung”. Über ihren Erfolg, eine achtköpfige Bettler-Familie in Bauern zu verwandeln, ist sie sehr stolz. „Wir haben sie drei Jahre lang gelehrt, in ihrem Hof Tiere zu halten. Nun haben sie 28 Schafe, vier Ziegen, 24 Schweine, zwei Pferde und einen Pferdewagen. Es geht mit winzigen Schritten voran, aber nur so kann die Gesellschaft und die Welt besser werden.“

Lehrer für eine Stunde

Das Bedürfnis, zu helfen, hat auch ihre Tochter Sorina erfasst. Während der Pandemie wollte sie den Kindern einiger dieser bedürftigen Familien Nachhilfestunden bieten, um die Mängel des Online-Unterrichts abzufedern. „So habe ich erfahren, dass viele weder Technologie noch Internetanschluss besaßen, also das ganze Semester nichts gelernt haben”, erinnert sie sich. Anfangs wollte sie Lehrer ansprechen, die Kinder freiwillig zu unterrichten. Nach einigen Überlegungen aber stand für sie fest: Kinder lernen besser von Kindern, also wird sie mit einigen Freunden und Kollegen in die Rolle der Lehrer schlüpfen und Mathematik, Rumänisch und andere Fächer unterrichten. Ihr Plan: den funktionalen Analphabetismus zu bekämpfen. „45 Prozent der Rumänen sind funktionale Analphabeten, das wollen wir ändern”. 

Das Projekt „Lehrer für eine Stunde” wird in Kronstadt und der Umgebung durchgeführt und sieht hauptsächlich Rumänisch- und Mathematikunterricht vor, den jeder Begünstigte zwei Mal die Woche erhält. Allein in Telciu sind es 40 Kinder, mit denen die Jugendlichen online in Verbindung stehen. Derzeit wird die Zusammenarbeit mit dem Bürgermeisteramt in Sankt Georgen/Sfântu Gheorghe im Kreis Covasna vorbereitet. Dort sollen ungarische Kinder auf spielerische Art Rumänisch lernen.

Kinder lernen besser von Kindern

„Die Grundsteine setzen Lehrer, aber wir ergänzen das, was sie in der Schule lernen. Die Beziehung zwischen Teenagern ist total anders als zwischen einem Lehrer und einem Teenager”, hat Tudor Boriceanu erfahren. Er ist seit einigen Monaten im Freiwilligen-Team dabei und will hier weitermachen. Einerseits hilft er Gleichaltrigen, sich weiterzubilden, anderer-seits lernt er, empathischer und sozialer zu sein. „Es ist ein gegenseitiger Gewinn”, findet der 17-Jährige. Derzeit bereitet Tudor den zwei Jahre älteren Alex für seine Abiturprüfung in Mathe vor. „Ich fühle, dass wir beim gemeinsamen Üben vorwärtskommen”. 

„Es ist bewegend, zu sehen, wie viel wir durch unseren Einsatz ändern können. Wir hatten einen jugendlichen Schüler, der nur Buchstaben lesen konnte. Nach vier Monaten regelmäßiger gemeinsamer Arbeit kann er nun fließend lesen”, sagt Diana Brătulescu, die Sekretärin der Organisation. 

„Kastel Youth“ hat große Pläne. Neben den Nachhilfestunden für benachteiligte und geflüchtete Kinder wollen die Vereinsmitglieder in Zukunft Opfer häuslicher Gewalt beherbergen und ihnen Erziehung anbieten. Für ihre ehrgeizigen Aktionen sammeln die „Kastelaner“ ständig Spenden. Sie finden bei vielen Menschen Unterstützung, wie bei-spielsweise beim Kronstädter Star-Polizisten Marian Godină. Er hat eine ihrer Spendenaktionen gefördert, woraufhin mehr als 25.000 Lei gesammelt werden konnten. Auch Unternehmen, Firmen, Privatpersonen und Vereine unterstützen die Programme der Jugendlichen. 


Gründe, um Freiwilliger zu werden

„Ich bin seit meinem achten Lebensjahr als Freiwillige tätig, habe meiner Mutter immer geholfen, ihre Projekte durchzuführen. Für mich ist das ein Lebensstil”, erklärt Sorina.

„Durch die ehrenamtliche Tätigkeit habe ich gelernt empathisch zu sein und mit Jugendlichen zu arbeiten”, sagt Tudor.

Diana hat ihr Selbstvertrauen entwickelt, seit sie mit anderen Kindern zusammenarbeitet. „Bevor ich hier angefangen habe, war ich sehr vulkanisch. Jetzt bin ich viel ruhiger und kann mich viel besser kontrollieren”.

„Hier wurde ich wie in einer Familie aufgenommen und ich fühle mich sehr wohl mit den anderen”, meint Anemona Mânzatu. „Ich habe gelernt, dass es gut ist, vereint zu sein und Gutes zu tun. Durch engagierte Menschen, so wie wir, kann die Welt besser werden.”