„Ich habe 35 Kinder – und man liebt sie alle gleich!“

ADZ-Gespräch mit Erwin Josef Țigla: 35 Jahre Deutsche Literaturtage in Reschitza

Erwin Josef Țigla | Fotos: George Dumitriu

Der Rolf-Bossert-Gedächtnispreis wird vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen, dem Kulturwerk der Banater Schwaben München und der Landsmannschaft der Banater Schwaben München gefördert. Die bisherigen Preisträger sind: Alexander Estis (2020), Britta Lübbers (2021), Bastian Kienitz (2022), Christian T. Klein (2023), Dietrich Machmer (2024), Nicola Quaß (im Bild, 2025)

Vom 3. bis 6. April sind dieses Jahr zum 35. Mal die Deutschen Literaturtage in Reschitza in der deutschen Abteilung der Kreisbibliothek von Karasch-Severin, der Alexander-Tietz-Bibliothek, über die Bühne gegangen (siehe ADZ, Kulturseite vom 11. April und BZ vom 9. April) – ein inzwischen internationales Literaturfest im Banater Bergland mit Rekordbeteiligung von deutschsprachigen Schriftstellern aus fünf Ländern. Ruhiges Auge im ringsum brausenden Sturm: Erwin Josef Țigla, Bibliotheksleiter, Organisator und Initiator einer der inzwischen wichtigsten Veranstaltungen für die deutsche Minderheit in Rumänien. Das Erfolgsgeheimnis verrät er ADZ-Chefredakteurin Nina May: der Wunsch, damals, 1991, die rumäniendeutsche Literatur zu retten, Kontinuität in der lokalen Kulturtätigkeit, seine eigene Liebe zur „sprachlichen Finesse“ – und natürlich ganz viel Herzblut!

Herr Țigla, wann und wie kam es zu der Idee, die Deutschen Literaturtage in Reschitza ins Leben zu rufen?
Es begann im April 1991 mit meiner Teilnahme in Ungarn an einem Symposium der Gemeinschaft junger Ungarndeutscher in Budapest und Fünfkirchen/Pécs. Ich hatte die Möglichkeit, mit mehreren ungarndeutschen Schriftstellern zusammenzukommen und über Kultur- und Literaturprobleme zu diskutieren. Mit mir war u. a. auch Marius Koity, damals Mitglied der zukunftsorientierten neuen rumäniendeutschen Schriftstellergeneration. Als Schlussfolgerung einiger Rundtischgespräche kam mir die Idee, ein Symposium zum Thema „Deutsche Literatur in Reschitza“ zu veranstalten.
Reschitza war damals niemandem als ein rumäniendeutsches Literaturzentrum bekannt – so sahen viele unsere Bemühungen als Don Quijotes Kampf mit den Windmühlen an. „Was sucht so ein Symposium in Reschitza?”, „Hat es noch einen Sinn, da ja sowieso alle schon ausgewandert sind?”, „Wo gibt es noch deutsche Schriftsteller in Rumänien?“, „Das ist alles ein Wahnsinn!”. Das war die allgemeine Stimmung damals, vor 35 Jahren. Diese Stimmen mussten übertönt werden…
Nur drei Monate später habe ich  die ersten Reschitzaer Deutschen Literaturtage mit dem Motto eröffnete: „Lasst uns doch heute ein Apfelbäumchen pflanzen, auch wenn das Deutschtum in Rumänien morgen untergeht.“

In welcher Position waren Sie damals?
Ich war seit 1987 Leiter des Kultur- und Erwachsenenbildungsvereins „Deutsche Vortragsreihe Reschitza“, also noch während des Kommunismus. Das heißt, kulturell aktiv war ich in Reschitza bereits seit 1978 in der damaligen landesweit berühmten deutschen Operettengruppe, aber 1987 wurde dieser Verein, als Reschitzaer deutsche Volksuni gegründet. So waren wir gleich nach der Wende einer der wenigen Vereine, denen es gelungen ist, ohne Unterbrechung aktiv zu sein, während andere Gruppen der Rumäniendeutschen erst mal nicht gewusst haben, wie es weitergehen soll, weil so viele ausgewandert sind.
In Reschitza, das bis Mitte der 1990er Jahre wirtschaftlich noch aktiv war – es gab Schwerindustrie und Maschinenbau – gab es nicht gleich diesen großen Drang der Auswanderung. So war das Kulturleben der Banater Berglanddeutschen relativ konstant. Januar 1990 waren wir auf lokaler Ebene im Landesvergleich vielleicht sogar die Aktivsten. 1991 haben wir begonnen, mit unserer Urheimat Kontakt aufzunehmen: mit der Steiermark in Österreich. Aber auch mit anderen Organisationen der Auslandsdeutschen. Es war uns ein Anliegen, auch mitzuerleben, was im weiteren Umfeld passiert, also etwa bei den Ungarndeutschen. So kam es auch zur Teilnahme an dem genannten Symposium in Budapest und Fünfkirchen, das Auslöser für die erste Ausgabe der Reschitzaer Literaturtage war.

Hatten Sie anfangs daran gedacht, etwas Regelmäßiges zu veranstalten?
Nein, erst mal wollten wir schauen, wie das überhaupt ankommt. Wir wollten vielleicht ein, zwei, drei Veranstaltungen durchführen und dann was Neues erfinden.
Anfangs war der Andrang nicht so groß, das kam erst mit der Zeit. 1992 hatten wir erstmals zwei ungarndeutsche Autoren, und so begannen die Literaturtage zu wachsen und zu einem Stelldichein der rumäniendeutschen Literatur zu werden. Aber auf keinen Fall hatten wir damals gedacht, bis zur 35. Auflage zu kommen!

Wie ordnen Sie die Bedeutung der Literaturtage im Vergleich zu anderen Veranstaltungen der deutschen Minderheit ein?
Im Banater Bergland sind die jedes Frühjahr abgehaltenen Reschitzaer Literaturtage inzwischen zu einem der beiden Höhepunkte des deutschen Kulturlebens geworden. Im Herbst haben wir noch die Deutsche Kulturdekade im Banater Bergland. Im Herbst feiert auch diese ihre 35. Auflage. Beide wurden 1991 gegründet und wir tragen sie bis heute weiter, weil es für uns identitätsstiftende Veranstaltungen sind. Literatur heißt ja auch deutsche Sprache, und Kultur schließt Volkstanz, Chor und Volkstum in dem Sinne, wie wir uns als deutsche Minderheit entfalten, ein. Das sind die beiden Füße der deutschsprachigen hiesigen Gemeinschaft.
Die deutschen Literaturtage sind aber inzwischen auch landesweit und länderübergreifend zu einer der wichtigsten Veranstaltungen der Rumäniendeutschen geworden.

Wie kam es zu der inzwischen recht breiten Teilnahme?
Ganz am Anfang waren es nur Literaten aus Rumänien, sie kamen aus Siebenbürgen, dem Banat, Bukarest, Jassy.
Dann kam der Aufruf, es sollten doch auch jene teilnehmen, die bereits ausgewandert sind, die in Österreich oder Deutschland leben, aber Interesse an einem Weiterbestand der Rumäniendeutschen Literatur haben. Es ging also zunächst nur um rumäniendeutsche Literatur.
Später kamen auch Freunde und Bekannte aus dem Umfeld, also Vertreter der deutschen Minderheit in Ungarn, Slowenien, Serbien und Kroatien hinzu.  So hat sich der Kreis immer mehr erweitert. Im Mittelpunkt stand dann die südosteuropäische Literatur in deutscher Sprache.

Bis der seit sechs Jahren auf den Literaturtagen verliehene Rolf-Bossert-Preis auch deutsche Autoren anzog... Wie kam es dazu?
Die Initiative dazu ging aus von einer Idee eines Freundes des in Reschitza geborenen Rolf Bossert: Hellmut Seiler. Das war eine Neuerung und eine große Bereicherung, denn durch die Vergabe des Gedächtnispreises zu Ehren Rolf Bosserts kommen ganz neue Schriftsteller hinzu. Nicht nur aus rumäniendeutschen Kreisen und Osteuropa, sondern aus deutsch-literarischen Gruppierungen, man kann sagen weltweit – bis jetzt, in den sechs Auflagen aus 15 Ländern, die wieder etwas Neues einbringen.

Welche anderen „Früchte“ sind aus diesem von Ihnen gepflanzten „Apfelbäumchen“ erwachsen?
Der Temeswarer Literaturkreis „Stafette“, der sich am letzten Veranstaltungstag präsentiert hat, wurde nach einer Ausgabe der Reschitzaer Literaturtage gegründet. Inzwischen hat sich „Stafette“ mit einem Literaturkreis aus Darmstadt im „Literaturexpress“ vernetzt.
Und wenn ich mich am Anfang Jahre lang bemühen musste, dass Lektoren von Universitäten oder Schriftsteller nach Reschitza kommen, dann ist inzwischen der Andrang so groß, dass es schwer ist, alle im Programm unterzubringen.  
Anfangs war die Veranstaltung von Freitagnachmittag bis Sonntagvormittag, jetzt beginnt sie am Donnerstag und endet am Sonntagabend. Wenn wir wollten, könnten wir eine ganze Woche füllen.

Wer sind oder waren im Laufe der Jahre die tragenden Säulen der Veranstaltung?
Joachim Wittstock war von Anfang an mit dabei, Carmen Elisabeth Puchianu aus Kronstadt  auch, oder Edith Guip Cobilanschi aus Temeswar, sie ist inzwischen verstorben.
Finanzielle Unterstützung verdanken wir dem Minderheitenrat (Anm. Red.: Departement für interethnische Beziehungen an der rumänischen Regierung, DRI), dem rumänischen Kulturministerium, und es gab Jahre, wo die Deutsche Botschaft mitfinanziert hat. Dieses Jahr ist das Österreichische Kulturforum zum ersten Mal mit im Boot. Durch sie kamen immer auch Leute, die etwas Neues mitbrachten. Höhepunkt diesmal war eine Ausstellung über Paul Celan und Ingeborg Bachmann.

Woher kommt Ihre Begeisterung für Literatur? Schreiben Sie auch?
Ich schreibe – ganz wenig – für mich, keine Gedichte, sondern Mundartprosa in der Umgangssprache der Banater Berglanddeutschen. Interessiert bin ich an allem – Poesie, Prosa – und nicht zuletzt an sprachlicher Finesse.

An welche der letzten 35 Veranstaltungen erinnern Sie sich am liebsten?
Ich bin manchmal schon gefragt worden, welche Auflage für mich von besonderer Bedeutung war. Das ist schwierig... Nach jeder Veranstaltung sage ich: Das war die beste! Sehen Sie, ich bin „Vater“ mehrerer „Kinder“ - von 35 Kindern. Und man liebt sie alle gleich!

Wer kann sich zu den Literaturtagen anmelden?
Jeder der will, und auch wer vorlesen will, möge sich bei mir melden und jeder soll zu seinem Wort kommen. Wenn es in Rumänien heutzutage noch wissenschaftliche Tagungen gibt, die von verschiedenen Fakultäten in deutscher Sprache organisiert werden, dann ist dies die einzige literarische Veranstaltung des rumänischen Deutschtums, die als Laienveranstaltung konzipiert ist, für die breite Masse der Interessierten.

Ein persönliches Resümee?
Man spricht, man liest und hört oft davon, dass die Rumäniendeutschen, ihre Traditionen, Kultur und Literatur sich ihrem Ende nähern. Mag es demographisch richtig sein, wenn man die Zahlen der Volkszählungen der letzten Jahrzehnte betrachtet, kann und darf es unter keinen Umständen richtig sein, wenn man die Tradition, Kultur und Literatur in Betracht nimmt. Wenigstens was die Literatur der Rumäniendeutschen anbelangt, kann ich als sicher bezeugen, dass es diese noch gibt und auch in der Zukunft geben wird.
Für mich hat es sich ausgezahlt, der fünften deutschen Literatur Europas eine neue Chance zu geben. Das Apfelbäumchen von 1991 trägt heute Früchte, ja man kann sagen, Früchte der Hoffnung und Zuversicht, in erster Reihe dank zahlreicher Teilnehmer, ihres Mitwirkens und ihrer Einsatzbereitschaft.

Vielen Dank für das Gespräch.


Der Rolf-Bossert-Gedächtnispreis

Der mit 2000 Euro dotierte Rolf-Bossert-Gedächtnispreis wurde 2025 zum sechsten Mal vergeben. Der Preis würdigt sieben deutschsprachige Gedichte mit hohem künstlerischem Anspruch. Die Zuordnung zur Gattung Lyrik muss deutlich erkennbar sein.

Die Jury bestand in diesem Jahr aus Christian T. Klein, Dr. Waldemar Fromm, Katharina Kilzer, Hellmut Seiler, Dr. Olivia Spiridon und Barbara Zeizinger. Erwin Josef Țigla ist als Sekretär seit Beginn dabei.

Der Preis wird gefördert vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde Tübingen, dem Kulturwerk der Banater Schwaben München und der Landsmannschaft der Banater Schwaben München. Die bisherigen Preisträger sind: Alexander Estis (2020), Britta Lübbers (2021), Bastian Kienitz (2022), Christian T. Klein (2023), Dietrich Machmer (2024), Nicola Quaß (im Bild, 2025).