„Ich sehe die Bilder im Fernsehen, aber mein Kopf kann nicht wirklich begreifen, was dort geschieht“

Perspektiven von Dietrich Arens, der bis zuletzt als ZfA-Lehrer in Lemberg/Lviv arbeitete

Dietrich Arens (l.) im Rahmen der DSD-II-Prüfungen
Foto: Ivanna Anfras

Die völlig zerstörte DSD-Schule in Charkiw
Foto: Segey Bobok, AFP

Die Schule Nr. 28 in Lemberg koordiniert Hilfslieferungen.
Foto: Natalija Krayinska

Dietrich Arens war in den letzten 20 Jahren in drei osteuropäischen Ländern als Lehrer tätig. Über die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) kam er als Landesprogrammlehrer 2001 an das Zemyna-Gymansium in Klaipeda/Litauen. Nach seiner Lehrtätigkeit in dem baltischen Land kehrte er 2009 für drei Jahre zurück nach Deutschland, wo er als Oberstudienrat am Immanuel-Kant-Gymnasium in Rüsselsheim unterrichtete. 2012 entschied er sich für eine weitere Station in Osteuropa als ZfA-Lehrer. Die Wahl fiel diesmal auf Sathmar/Satu Mare in Rumänien. Hier unterrichtete er über acht Jahre lang als Fachschaftsberater am Deutschen Theoretischen Lyzeum „Johann Ettinger“. 2020 führte ihn sein Weg als Landesprogrammlehrer an die Schule Nr. 28 und an die Schule Nr. 8 (Zweitschule) in Lemberg/Lviv in die Ukraine. Dort unterrichtete er vor Ort bis zu seiner Ausreise kurz vor der russischen Invasion. Über die Ereignisse, seine Wahrnehmungen und die gegenwärtige Situation sprach er mit ADZ-Redakteur Arthur Glaser.

Herr Arens, Sie konnten Lemberg noch vor der Invasion verlassen. Wie war die Situation vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Stadt und auch in der Schule? Wie hat man den Aufmarsch der russischen Armee an der ukrainischen Grenze wahrgenommen? Hat man mit einer Invasion, einem Krieg gerechnet?

Über der Stadt, die ja ganz im Westen der Ukraine liegt, lag bei meiner Abreise Mitte Februar eine trügerische Ruhe, gepaart mit einem Gefühl von falscher Sicherheit. In der Schule war man ganz und gar damit beschäftigt, die DSD I-Prüfungen (Deutsches Sprachdiplom) mit den Schülern vorzubereiten. Nur wenige machten sich wirklich Sorgen, dass es zum Krieg gegen Russland kommen könnte.

Ganz anders hat sich die Situation für meine deutschen Kollegen in Kiew schon in den Tagen zuvor dargestellt. Sie sahen, wie am Wochenende des 12./13 Februars in kürzester Zeit eine Botschaft nach der anderen überstürzt die Koffer packte und nach Lemberg umzog. Die Kriegsgefahr wurde immer spürbarer im Osten der Ukraine. Am 12. Februar erfolgte dann auch die Aufforderung zur Ausreise für die aus Deutschland entsandten Lehrkräfte.

Die Ukrainer waren vielleicht diejenigen, die am ruhigsten geblieben sind in dieser Zeit. Sie waren es gewohnt, mit einem Nachbarn zu leben, der gerne mal seine  Muskeln spielen lässt. Rede ich über meine Sicht auf das Geschehen, so erlebte ich in dieser Periode eine tiefe Spaltung in mir. Der Verstand sagte mir sehr klar, dass Russland die Ukraine angreifen wird, die Truppenbewegungen Richtung ukrainische Grenze waren zu eindeutig. Aber mein Gefühl und meine ganze Lebenserfahrung widersprach dem einfach, wir alle hatten uns zu sehr an den Zustand gewöhnt, dass wir in Europa unsere Konflikte friedlich miteinander lösen.

Gab es bei der Ausreise Probleme?

Nein, für mich gab es überhaupt keine Probleme oder Wartezeiten. Ich war fast allein am Grenzübergang bei der Ausreise. Aber  nur neun Tage später sah es dort ganz anders aus. Schüler haben mir berichtet, dass sie bei ihrer Ausreise nach Polen bis zu 28 Stunden an der Grenze gewartet haben.

Wie nehmen Sie den Krieg wahr?

Ich sehe die Bilder im Fernsehen, aber mein Kopf kann nicht wirklich begreifen, was dort geschieht. Es wirkt alles so unwirklich. Es schmerzt, mitansehen zu müssen, wie so ein schönes Land wie die Ukraine mit seinen wunderbaren Menschen durch den Machthunger und die Zerstörungswut der russischen Herrscher in Schutt und Asche gelegt wird. Aber ich bin gleichzeitig ungeheuer beeindruckt von der Bereitschaft des ukrainischen Volkes und insbesondere seines Präsidenten, die Heimat bis zum letzten gegen die Invasoren zu verteidigen.

Hatten Sie seit Kriegsbeginn noch Kontakt zu Kolleginnen und Kollegen oder auch Schülerinnen und Schülern in Lemberg? Wie haben diese die Invasion wahrgenommen?

Ich stehe in stetigem Austausch mit meinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort, aber auch mit Schülern. Die erste Reaktion auf deren Seite war vielleicht Ungläubigkeit über das Geschehen, dann aber auch der Versuch, zur Normalität zurückzukehren. Es wurde in den ersten Tagen Distanzunterricht gemacht, bevor dann in der zweiten Kriegswoche zwei Wochen schulfrei eingeführt worden sind. Ganz viele Kolleginnen, aber auch Schüler engagieren sich jetzt für die Unterstützung der Soldaten oder helfen bei der Versorgung der vielen Flüchtlinge in der Stadt. Andere helfen bei der Herstellung von Tarnnetzen oder Ähnlichem, wieder andere nehmen an Rot-Kreuz-Kursen für medizinische Nothelfer teil. Man hat das Gefühl, 70 Jahre zurück in die Ausklänge des Zweiten Weltkriegs gereist zu sein.  

Die Region Lemberg ist ebenfalls eines der Angriffsziele der russischen Armee. Wie erleben die Menschen vor Ort den Krieg?

Bisher ist Gott sei Dank die Stadt Lemberg nicht angegriffen worden, in den westlichen Zeitungen wird nur wenig unterschieden zwischen der Oblast Lviv, wo am letzten Wochenende Luftangriffe stattfanden, und der Stadt Lemberg. Aber ich habe große Angst davor, das die russische Armee keine Rücksicht nimmt auf die einzigartige historische Altstadt Lembergs, je länger der Krieg dauert.

Sie hatten während ihrer Zeit in der Ukraine auch die Gelegenheit, mehrere Schulen im Land im Rahmen der Vorbereitung auf DSD-Prüfungen zu besuchen. Wissen Sie, wie es um die Schulen steht?

Eine unserer DSD-Schulen in Charkiw wurde vor etwa zehn Tagen in einen Trümmerhaufen verwandelt, die russische Armee beschießt immer mehr Wohngebiete, Krankenhäuser und auch Schulen. Man muss befürchten, dass es noch viel schlimmer kommt, auch für Schulen aller Art.

An regulären Unterricht ist zur Zeit kaum zu denken. Haben Sie Einblick, wie es um den Schulunterricht steht? Funktioniert er in den noch nicht umkämpften Gebieten?

Seit diesem Montag (14. März, Anm. der Redaktion) ist wieder regulärer Unterricht, aber im Distanzunterricht, wie er ja zuvor hinreichend praktiziert wurde während der Pandemie. Im Westen der Ukraine ist das durchaus machbar und sinnvoll, weil es bisher dort ruhig ist, aber auch hier hat der Krieg schon tiefe Wunden geschlagen. Entweder haben die Schüler die halbe Nacht im Keller verbracht oder die Unterrichtsstunde wird durch einen Fliegeralarm unterbrochen.
Die Schülerinnen und Schüler meiner Klassen sind im Rahmen ihrer Flucht inzwischen über  verschiedene  europäische Länder verteilt, die Frage der schulischen Versorgung bleibt oft vollkommen ungeklärt. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Schüler der Schulpflicht in den Gastländern unterliegen oder ob der Online-Unterricht in ihren ukrainischen Schulen als gleichwertig anerkannt wird. Auch weiß niemand, wie lange wir im Westen der Ukraine noch einen mehr oder weniger normalen Schulbetrieb aufrechterhalten können.

Unterrichten Sie trotz ihrer Ausreise weiter?

Ja, ich unterrichte seit diesem Montag wieder im Fernmodus. Hierfür musste ich einen Antrag stellen, so dass ich die Erlaubnis bekam, den Unterricht im Fernmodus bis zum Ende des Kriegszustandes durchzuführen.

Wie versucht die Zentralstelle für Auslandsschulwesen in der gegenwärtigen Lage zu helfen?

Es ist generell schwer, sich auf eine solch dynamisch sich entwickelnde Situation einzustellen. Das vielleicht primäre Ziel der ZfA ist es momentan, Namen und Kontaktadressen von geflüchteten DSD-Schülern (Deutsches Sprachdiplom, Anm. d. Red.) wie Lehrern zu sammeln, um ihnen dann  entsprechende Angebote in Deutschland im Rahmen von Deutschunterricht und DSD-Arbeit  anzubieten. Ganz wichtig ist dabei auch die Einbeziehung geflüchteter Lehrkräfte.
Gleichzeitig ist auch allen Beteiligten klar, dass insbesondere die Menschen aus dem Osten der  Ukraine erst einmal heil aus dem Land rauskommen und irgendwo anders ein Dach über dem Kopf finden müssen. Erst dann werden Dinge wie das Deutsche Sprachdiplom und Deutschunterricht überhaupt erst relevant werden, bis dahin ist es aber wohl noch ein weiter Weg.

Vielen Dank für das Gespräch!


Die Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA) betreut mit knapp 100 Mitarbeitenden und mehr als 50 Fachberatungen für Deutsch als Fremdsprache sowie 15 Prozessbegleitungen die schulische Arbeit im Ausland. Weltweit werden circa 1200 Schulen personell und finanziell gefördert, darunter rund 140 Deutsche Auslandsschulen, die überwiegend in privater Trägerschaft geführt werden.
Rund 1800 Lehrkräfte in unterschiedlichen Funktionen sind in diesen Einrichtungen tätig. Sie werden während ihrer Tätigkeit im Ausland organisatorisch, pädagogisch und finanziell von der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen betreut.