Ion Caramitru las Gedichte in Hermannstadt

Nachklänge an einen großen Rumänen

Autobahnen zirkeln die Landschaften. Wer fährt, wird durchflutet von Gedanken, die ausreisen. Die A 3 nach Frankfurt wird kurz nach Bonn ein zarter Walzer: das Siebengebirge bewegt das Auge. Die Siefen, die Täler zwischen den einst vulkanischen Bergen und nicht etwa die Zahl Sieben, brachten den Namen hervor. Märchenhafter Zauber entlang des Rheins. Und zugleich lehnt sich das kleine Mittelgebirge sprachlich an eine Landschaft an, mit der es nicht verwandt und doch geschwisterlich verbunden ist: Siebenbürgen. Auch aus dem Letzeburgischen um Luxemburg, von den Ufern von Mosel und Rhein sowie aus den kargen Regionen der Eifel kamen die Siedler auf Einladung der ungarischen Krone ab dem 12. Jahrhundert, flohen wie heute die Menschen aus der Not in das Land hinter den Wäldern, nach Transsilvanien, das Siebenbürgen der Neuankömmlinge. Sie nannten sich Sachsen, haben jedoch mit jenen aus Dresden und Leipzig keine Verwandtschaft, noch weniger mit den Angelsachsen, auch wenn der Britische Prinz Charles v. Windsor oft in diesen erwärmenden Teil Rumäniens kommt.

Von 1526 bis 1688 war das Fürstentum Transsilvanien dem osmanischen Sultan unterworfen, ab 1765 gehörte es zu Habsburgs Kakanien-Reich und erst seit Ende des Ersten Weltkriegs ist es Landesteil Rumäniens. Wenn in deutschen Medien heute von dieser Region Südosteuropas geschrieben wird, dann eher sorgenvoll, die Regierungskrisen und EU-Finanzströme im Blick und dabei stets mit der Frage befasst, was ist rumänisch und ist auch der neue Aachener Karlspreis-Träger, Präsident Klaus Johannis, auf dem richtigen Weg, wollen ihm doch nicht wenige die Legitimation entziehen, denn er ist Siebenbürger Sachse, kommt also - lange Jahre als Bürgermeister von Hermannstadt/Sibiu - aus der deutschen Minderheit. Aber so ist es vielfach auch in der Bundesrepublik Deutschland mit 150 Ethnien: entscheidend ist die Staatsbürgerschaft. Und die ist bei Johannis eindeutig rumänisch so wie die von Angela Merkel und Cem Özdemir deutsch. Was das Rumänische wirklich ausmacht, zeigt sich im Lebensweg von Ion Caramitru, dem einstigen Kulturminister Rumäniens, einer der bedeutenden Politiker. Er erkannte, dass dieses Ovid-Land mit der Klangsprache von George Enescu und dem Klavierspiel von Clara Haskil und Dinu Lipatti poetisch zu erfassen ist, ein Land der Herzenswärme und ständigen Suche nach sich selbst.

Und zum Seelenschatz der europäisch gewachsenen rumänischen Kulturnation gehört (auch) das Ensemble der Kirchenburgen Siebenbürgens. Es sind Wehrkirchen, die so ganz das von Martin Luther gedichtete und komponierte Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ von 1529 beglaubigen. Erst allmählich wandelten sich die Kirchen in Kirchenburgen mit umgebenden Ringmauern, nämlich etwa im 15. und 16. Jahrhundert unter dem Druck der türkisch-osmanischen Söldnerheere und Banden. Nicht in allen 241 sächsischen Dörfern steht heute noch eine Kirchenburg. Aber in sehr vielen und sieben davon gehören seit 1999 zum UNESCO-Weltkulturerbe, so Birthälm/Biertan bei Hermannstadt und Tartlau/Prejmer bei Kronstadt/Brașov. Nicht einbezogen in dieses Sieben-Burgen-Ensemble wurde die so zart in die Landschaft platzierte Kirchenburg von Grossau/Cristian, wenige Kilometer von Hermannstadt entfernt, in der weiterhin zu Gott gebetet und gesungen wird.

Cristian /Transilvania
Lapte picură din manuale
când bătrânul
își ară orga
ferestrele-ascuțite
amuțesc și oglindesc turnul
care răbdător ascultă

biserica
un cuib de berze
insulă-n toi de iarnă

fuge de șapte ori îndepărtată
reprezintă o țară
din palme bătucite
ies aburi calzi de sunete

zăpada-și proptește scara
de zidul împrejmuitor


Dieses Gedicht las im Sommer des Jahres 1998 Ion Caramitru im Brukenthal-Museum in Sibiu/Hermannstadt. Es lautet im Original, übersetzt von George Guțu in der Sammlung „Die Stille nach dem Axthieb /Liniștea de dupa lovitura de secure“ 1997 in Editura Fundației Culturale Romane:


Grossau/Siebenbürgen
Milch perlt aus den Manualen
Wenn der Alte
Seine Orgel pflügt
Die spitzen Fenster werden
Still und spiegeln den Turm
Den geduldigen Zuhörer

Die Kirche
Ein Storchennest
Vom Winter verinselt

Siebenweit die Fuge
Sie ist ein Land
Aus rindigen Händen
Warm dampfen die Töne

Der Schnee stellt seine Leiter
An die Ringmauer


Das war für mich als Autor dieser Verse ein beglückendes Erlebnis, denn wir gestalteten eine lange deutsch-rumänische Lesung aus diesem Band und mir war, als klängen meine Gedichte im Weichlaut des Rumänischen mehr klingend und so mehr mit dem Ausgangsbegriff des Poetischen, Lyrik, verbunden. Eine bereits gut ausgebildete 18-jährige Sopranistin sang klavierbegleitet aus Mozart-Opern. Und so entstand eine Klangwolke, die sich vielen mitteilte. Wie sehr die Zuhörerinnen und Zuhörer sich einließen auf die Gedichte, erkannte ich in den Gesprächen bei einem Glas Wein: da wurde aus den Gedichten zitiert, als hätte man sie abgehorcht, eine Erfahrung, die ich nur in Rumänien gemacht habe.

Der aus Schäßburg/Sighi{oara stammende Kunsthistoriker Christoph Machat, damals Vorsitzender des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrates, hatte diesen Abend im Nachklang auf die Kunsthistoriker-Tagung in Schäßburg angeregt, waren wir doch lange Jahre befreundet und beruflich verbunden. Die Dokumentation des immobilen Kulturbesitzes, der Dörfer, Kirchenburgen und Denkmalensembles, wurde seit 1991 von ihm fachlich koordiniert und verantwortet als Projekt von rumänischen und deutschen Denkmalpflegern. Mir war als Beamter im Bundesinnenministerium und ab 1998 im Kanzleramt die Aufgabe zugefallen, die Arbeiten mit Finanzmitteln aus dem Bundeshaushalt zu ermöglichen. Caramitru und Machat kannten sich seit Jahren. Dass ein weit über Rumänien hinaus geschätzter Schauspieler in Film und Theater als Kulturminister politisch handelte, war ein Novum und ein Segen. Und er öffnet sich kompetent und emphatisch den Dörfern und Kirchen, die aus dem Land hinter den Wäldern die liedhafte „süße Heimat Siebenbürgen“ machten. Caramitru hielt Kontakt zum Schäßburger Machat, sie wurden Freunde und entwickelten das Management für ein bilaterales, ja, europäisches Wissenschaftsprojekt, das mit rumänischen und deutschen Finanzmitteln ausgestattet wurde: über sechs Millionen Euro aus Deutschland kamen so ins Land für die siebenjährige denkmalpflegerische Bestandsaufnahme nach ICOMOS-Struktur (entsprechend dem Internationalen Rat für Denkmalpflege). Die Dokumentation wurde 1998 abgeschlossen und wissenschaftlich diskutiert auf einer großen Tagung im Geburtsort für Christoph Machat. Ion Caramitru eröffnete sie. Mit einem Gedicht.

Rumänien zeigt sich immer wieder (auch) als weiche Harfe, die nur jemand zum Klingen bringen kann, der hinter die Erscheinungen der Welt schaut, der die Verlassenschaften der Menschen zum Leuchten bringen, ja, sie in die Gegenwärtigkeit zu holen vermag. Caramitru war eine solche Persönlichkeit, getragen von dem melodischen Moll seiner Stimme und der Grandezza seiner Weltwahrnehmung. Dass er als Schauspieler von Rang in die Politik gegangen war, prägte seinen politischen Stil. Er war auf diese Weise näher an den Dichtern als an den Nationalen. Dass sein Bild auf eine 4,30 Lei-Briefmarke geriet, war ihm vermutlich eher peinlich, hat ihn aber vielleicht poetisch angesprochen, denn so war er heimlicher Botschafter auf Briefen und so Versender eines Lächelns. Wer ihn in Filmen gesehen hat wie im Justizspiel „Citizen X“ (1995), im Bond-Thriller „Mission impossible“ (1996) oder im Geschichtsdrama „Der Stellvertreter“ (2002) vergisst seine Augen nicht, seine behutsamen Bewegungen und Gesten. Die Politik war ihm ein Interludium, seine Welt war die Bühne und so leitete er bis 2021 das Bukarester Nationaltheater. In der Hauptstadt wurde er am 9. März 1942 geboren, mitten im Krieg, den Rumänien zusammen mit der Deutschen Wehrmacht bis nach Stalingrad führte. Am 5. September 2021 starb er in seiner geliebten Geburtsstadt. Auf der Schäßburger Kunsthistorikertagung las er 1998 zu Beginn die rumänische Fassung meines Gedichts 

„Die Treppe von Schäßburg“ 

Es endet so:
Manchmal verweilen sie
Auf einem Treppenabsatz
Blicken ins bewohnte Tal
Bis sie Kamille riechen
Den wiederholbaren Frieden
Wenn das Dach niederkommt
Mit verwaisten Namen und Legenden
Wenden sie sich wieder zurück
Zu den staubigen Terrassen der Gräber
Zurückgelassene Koffer sind ihre Steine
Ion Caramitru wird nicht vergessen, er ist der Alte, der in Grossau weiter die Orgel pflügt:
 „Der Schnee stellt seine Leiter
An die Ringmauer“