„Künstler können auf kein Arbeitsbuch festgenagelt werden“

Petre Moise singt original byzantinisch und lässt niemanden kalt

„Mir wurde mehrmals angetragen, Priester zu werden, aber ich fühle mich als Sänger im Chorgestühl zuhause.“ Foto: Klaus Philippi

Sonntagnachmittag Mitte Juli 2023 auf der seit stolzen 800 Jahren urkundlich verbrieften Michelsberger Burg/Cetatea Cisnădioara. Als Zugabe auf sein Konzert für die Zuhörer in der romanischen Basilika wählt Petre Moise (Jahrgang 1984) ein so berauschendes  „Halleluja“ des 14. Jahrhunderts, dass manche Hörgewohnheiten aus alter Zeit überraschend neu sortiert sein wollen. „Ich bin mit Vorurteilen in dieses Konzert gekommen, habe nun jedoch meine Meinung geändert.“, gesteht ein Siebenbürger Sachse frei heraus dem singenden Gast aus Südrumänien. 

Tatsächlich kann er dem Vergleich mit der Stimme von Petre Moise oft nicht standhalten, der liturgisch standardisierte Gesang orthodoxer Priester. Aber genau deswegen sind Kirchensänger, die sich akribisch auf ihren Einsatz am Lesepult vorbereiten und dem zum Dienst geweihten Kleriker vokale Unterstützung bieten, auch so gesucht. Oder eben unerwünscht, wenn sie Priestern die Schau stehlen, wovon Petre Moise gleichfalls ein Lied singen kann. Kaum dass wenige Tage nach seinem Auftritt in Michelsberg verstrichen sind, kommt ihm auch schon Kritik aus orthodoxem Raum zu Ohren. Ginge es nach manchen Köpfen, hätte er in der zunächst katholischen und heute protestantischen Basilika nicht auftreten dürfen. Petre Moise aber ist weder Mönch noch Priester und nur auf der Suche nach einem Publikum, das seine Leidenschaft für den byzantinischen Gesang teilt.

Zur Blütezeit im Oströmischen Reich vor dem Fall Konstantinopels müssen die Psalmen, Gebete und liturgischen Texte ziemlich genau so gesungen worden sein, wie Petre Moise sie wiedergibt. Was die Normierung in etwa 1000 Jahren zwecks Vereinfachung gestrichen hat, holt er zurück. Mit sämtlich verloren geglaubten Nuancen und Zwischentönen. Und besonders die Kirchgänger des orthodoxen Klosters „Antim Troianul“ in Râmnicu Vâlcea haben oft das Glück, ihn sonntags im Gottesdienst singen zu hören. Petre Moise lebt mit seiner Familie in Bukarest, von wo aus er überall hin pilgert, wo er eingeladen wird. Oder wo er selbst gerne anderen Sängern zuhört. Aber er ist wählerisch und davon überzeugt, dass Beliebigkeit der falsche Weg wäre. Was ihn antreibt, verriet er Klaus Philippi nach dem Konzert in Michelsberg.


Ihr Auftritt in Michelsberg, Petre Moise, wird allen, die zugehört haben, bestimmt noch lange Zeit im Gedächtnis bleiben. Welche Erinnerungen an Ihre eigene Erstbegegnung mit byzantinischem Singen begleiten Sie bis heute, wie hat sich das Selber-Anfangen angefühlt?

Alles begann damit, dass meine Mutter eines Tages vom Kirchgang nach Hause kam und der Priester ihr gesagt hatte, „Maria, du hast so viele Söhne, bring doch einen zu mir, damit aus ihm ein Lehrer wird!“. Die Wahl meiner Mutter fiel auf mich. Ich war 14 Jahre alt und wollte das gar nicht, aber nach ein, zwei Monaten packte mich die Neugierde am Singen in der Kirche. Es geschah am Ort meiner Kindheit im Kreis Prahova, Bolde{ti-Sc²eni. Das ist eine Kleinstadt in elf Kilometern Entfernung zu Ploiești und bis heute für die Erdöl-Vorkommen der Region und ihre vormals industrielle Gewinnung bekannt. V²lenii de Munte ist nicht weit weg, und noch ein gutes Stück mehr Richtung Norden findet man sich in Cheia unter dem Ciucaș-Gebirge wieder.

Was war die eindeutig bessere Lernhilfe, das Zuhören bei Ihren vorsingenden Mentoren oder das Entziffern der byzantinischen Singschrift?

Pflege byzantinischen Kirchengesangs stützt sich grundsätzlich zu 60 Prozent auf die mündliche Weitergabe. Die 40 Prozent aber, die auf das Theoretische und die Kenntnis der Notation entfallen, sind meiner Meinung nach mindestens genauso wichtig wie das Lernen durch Zuhören.

In der Kirche, wo ich als Vierzehnjähriger zu singen begann, stand es um den Gesang nicht gerade gehoben, und ich hatte noch keine oder nur ganz wenige Materialien ausfindig gemacht, die ohnehin schwer zu verstehen sind. Mit der Zeit wurde mir klar, diese erste Kirche dort verlassen und als Sänger fortan von Ort zu Ort pilgern zu müssen. Nur so habe ich Erfahrung sammeln und einen Sinn für all die unterschiedlich guten Stile entwickeln können. Und weil ich 1998 angefangen habe, tue ich das nun schon seit 25 Jahren. Es steht außer Frage: die größte Hürde dabei, nämlich die Vorurteile einiger Mitmenschen, hat sich kein bisschen zurückgebildet und wird wohl auch zukünftig nicht weichen. Einem freigeistigen Musiker sind die Einschüchterungen Dritter, die nur so tun, als ob sie eine tatsächlich fundierte Meinung hätten, nicht zuträglich. Besonders in Rumänien ist keine andere Herausforderung so hartnäckig wie die pedantisch kleinliche Besserwisserei. Meine Mutter hatte kein Vorwissen, aber einen Riecher dafür, dass mir das Elegante und Ruhige des Sänger-Berufs guttun würden. Gefügt habe ich mich letztlich nicht nur auf ihr Drängen hin, sondern auch wegen eines spirituellen Rufs, mein Leben auf genau dieser Spur anzupacken und mit einem Studieren loszulegen, das bis heute anhält und mich auch weiterhin bestimmt nicht loslassen wird.

Wer waren Ihre ersten Lehrmeister und was für einen Unterricht haben Sie mitbekommen?

Einige Monate nach meinen ersten Gehversuchen als Sänger in der Kirche verspürte ich klar den Wunsch, auf Zeit in einem Kloster zu leben. Ich fand Aufnahme als Gast beim Mönchskloster Crasna im Kreis Prahova, wo ein Geistlicher zunächst sechs Wochen lang die Geduld aufbrachte, mir jeden Abend aufs Neue beim Singen nach der Notation zuzuhören. Es darauf ankommen zu lassen, nur dem Gehör nach zu singen, wäre für später schlecht gewesen. Ghelasie Ivan heißt jener Priestermönch, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort wie eine Vaterfigur achtgab, dass ich Anfänger gesund in das Lesen hineinfinde. Mein byzantinisches Singen verdanke ich auch ihm.

Der andere für mich entscheidende Mentor war und ist Theodoros Vasilikos aus Griechenland, ein Schwergewicht der Branche. Noch im Jahr, als ich im Kloster Crasna wohnte, verschaffte ich mir eine Audio-Kassette von Vasilikos, und seine Art, mit der Stimme das Beste und Allerschönste aus dem Melos der orthodoxen Liturgie herauszuholen, hat mich umgehauen. Sein Singen ist mir seither Richtmaß. Die Chance, ihn persönlich kennenzulernen, habe ich nicht tatenlos verstreichen lassen.

Nicht nur, aber sicher auch dafür haben Sie Griechisch gelernt, oder?

Ich war neugierig, direkt aus griechischem Quellmaterial singen zu können, und so lernte ich das Alphabet. Konversationsreif ist mein Griechisch zwar noch nicht, doch letztes Jahr habe ich einen Monat bei Thessaloniki verbracht und als Sänger in einer Kirche gedient. Die Einheimischen staunten über mein akzentfreies Artikulieren des Altgriechischen und wunderten sich, dass es nicht klappt, sich mit mir in der modernen griechischen Sprache zu unterhalten. Mit ihren alten Musikschriften komme ich sehr gut zurecht, als Tourist dafür bin ich weiter auf Übersetzungshilfe angewiesen. Nur etwa 40 Prozent von dem, was Griechen untereinander sprechen, ist mir verständlich.

Erzählen Sie bitte mehr von Ihrer Auszeit im Kloster Crasna und davon, wie Sie das Leben dort mit dem Schulbesuch unter einen Hut zu bringen geschafft haben!

Als meine Mutter mir sagte, dass es für mich angebracht wäre, die Kirche regelmäßig zu besuchen, ging ich in die 6. Klasse. Ich stellte mich nicht quer, ging gerne zur Kirche, und als ich in der 8. Klasse angelangt war, schaffte ich es nicht, sie zu beenden. Auch aus dem Einschreiben zur Abschlussprüfung, die genau damals zum ersten Mal „Capacitate“ hieß, wurde nichts. Stattdessen gönnte ich mir ein Jahr Pause, verbrachte sieben Monate im Kloster Crasna und holte das Schulexamen erfolgreich nach. Die Monate im Kloster waren eine wegweisende Zeit. Alltag in mönchischer Umgebung ist eine einmalige Erfahrung und eröffnet eine spirituelle Welt, wie sie das Städtische nun einmal nicht bieten kann. Klöster sind durch nichts zu ersetzen.

1999, nach dem Bestehen der 8. Klasse und der „Capacitate“, ging ich für drei Jahre nach Bukarest an die Kirchensänger-Schule des Orthodoxen Theologischen Seminars, die einer Berufsfachschule ähnelte. Was Priestermönch Ghelasie Ivan mir beigebracht hatte, festigte sich, und mein Abitur am selben Seminar legte ich 2007 ab. Es folgten zwölf Jahre als Autodidakt. Erst 2019 habe ich mich dazu aufgerafft, auch eine höhere Bildungseinrichtung zu besuchen, und bestand die Aufnahmeprüfung für den Studiengang Kirchenmusik der Musikhochschule Bukarest, der sowohl die gregorianische als auch die byzantinische Tradition bedient. Ich wollte mehr über die Musik des Okzident und ihre Entwicklung von Beginn des zweiten Jahrtausends bis heute erfahren, was mir auch gelungen ist. Allein dem finalen Examen zu Ende des dreijährigen Studiengangs habe ich mich noch nicht gestellt, weil ich meine, nach so langer Zeit als Denkender und Sänger im Byzantinischen mehr als nur kurze drei Jahre Übung nötig zu haben, um auch das Abendland musikalisch reflektieren zu können. Ich habe mir vorgenommen, demnächst ab Herbst 2023 wieder am Musikhochschul-Unterricht teilzunehmen, hoffentlich werde ich zum Examen zugelassen. Hinzugelernt habe ich auf jeden Fall.

Für mein byzantinisches Singen bin ich oft nach Athos gereist, und mehrmals auch nach Thessaloniki. Ohne diese Visiten wäre es mir nicht möglich gewesen, Fortschritte zu machen. Schlafmangel und Müdigkeit haben sie mich gekostet, vom zeitlichen und geldlichen Aufwand gar nicht erst zu reden. Ohne Entbehrung und Opfer auf der Wanderschaft aber geht es nicht. Das Aufschlagen von Büchern ist zu wenig, man muss die griechische, die byzantinische Urheimat lebendig aufsuchen und Sängern zusehen und lauschen, die einem überlegen sind.

Wie erhalten Sie Ihre Stimme gesund und langlebig?

Diese Art des Singens kann nur praktizieren, wer den alltäglichen Konflikten des Lebens fernbleibt. Die Kraft dazu findet, wer Streit mit seiner Umgebung vermeidet. Natürlich kommen rechtzeitiges Ausruhen und Bewegung dazu. Die Stimmbänder, das Instrument von uns Sängern, brauchen beides, Schlaf und Sport. Was ebenfalls nicht aufhören darf, sind das Studium stets neuen Repertoires und das tägliche Hören neuer Aufnahmen anderer Sänger. Vieles spielt eine Rolle, bis hin zur Achtung, die man Priestern schuldig ist, und die man auch von ihnen erwarten dürfen soll. Wird sie einem nicht entgegengebracht, sollte man sich zurückziehen, weil das Herz sehr leicht verbittern kann. Es gibt und hat in allen 25 Jahren leider auch Leute gegeben, die mir Schlechtes wollten, und aus deren Umkreis ich abgehauen bin. Selbstverständlich ist mir nachgeredet worden, dass ich einer wäre, der sich von anderen isoliert und Beziehungen mit Füßen tritt, aber das Gerede blieb Gerede und ich meinem Weg treu.

Im 21. Jahrhundert unserer Tage spricht man gewöhnlich vom freiberuflichen oder vertraglich geregelten Arbeiten. Was liegt Ihnen näher?

Ob man auf unserem Planeten bereits vor der Kollektivierung vom Arbeitsvertrag oder dem sogenannten Arbeitsbuch gesprochen hat? Ich weiß es nicht. Und ich glaube auch nicht, dass Künstler wirklich auf ein Arbeitsbuch festgenagelt werden können. Verträge können vom Arbeitgeber auch missachtet und Künstler dadurch schikaniert werden. Meine Freiheit ist mir nach wie vor das Liebste. Früher, als es noch keine Arbeitsbücher und Ähnliches gab, hat man auch ohne Rente gelebt. Es steht mir nicht zu, Menschen für ihre Entscheidung zu einem Leben in vertraglich gesicherten Umständen zu belächeln, nein. Dieselbe Entscheidungsfreiheit jedoch sollte dann umgekehrt auch uns nimmermüden Pilgern auf der Wanderschaft eingeräumt werden.