„Lasst Putin diesen Krieg nicht weiterführen!“

Mit den Augen einer russischen Ukrainerin

Lilia Safonova

Sympathiewerbung für die Ukraine: Margerita (links) und Lena mit ihren beiden Kindern | Fotos: George Dumitriu

Sonntagmorgen, 29. August, in Schäßburg. Es ist der letzte Tag des ProEtnica-Festivals. Über den Burgplatz streifen erste Menschen, die Bühne ist noch leer. Die Morgensonne lugt gerade über das Dach der evangelischen Klosterkirche, durchleuchtet ein Banner in Blau-Gelb. Davor ein Stand mit bedruckten T-Shirts, Fahnen, selbstgebackenem Kuchen: „Pray for Ukraine“, „Save Ukraine“, Herzen und aufeinander zustrebende Hände. Auf den Holzbänken im Schatten: zwei junge Frauen und ein paar kleine Kinder. Ich spreche sie an. Erst auf Rumänisch, dann Englisch. Verlegenes Lächeln. „Ukrainski? Russki?“ Ein Mann kommt ihnen zu Hilfe. Ein Holländer. Freundlich bietet er mir Platz an... 

Ich wittere eine Geschichte. Was macht ein Holländer bei den Flüchtlingen? Trotzdem stelle ich erstmal nur Fragen zu dem Projekt. Die Ukrainerinnen kommen aus Daneș, dort werden sie unterstützt von einer freikirchlichen Mission. Am Stand: Lena, zwei Töchter, ihr Mann ist in Mykolaev, „dort ist es gerade ganz schlimm“, sagt Gerard de Boer leise. Und Margerita, sie ist mit drei Kleinkindern und ihrer Mutter geflüchtet. Wann sie hoffen, wieder nach Hause zu können? Lena radebrecht verlegen: „Domoi? - I don’t know.“ Der Stand ist nicht gedacht, um für die Ukraine zu sammeln. „Das wirft nicht viel Geld ab“, lächelt de Boer. „Aber es bringt die Ukraine den Leuten näher – jeder hier sollte so eine Fahne oder ein T-Shirt haben!“ Auch die Verständigung zwischen ihm und den beiden Frauen geht nur schleppend. Ein paar Brocken Englisch, Ukrainisch. Irgendetwas in mir sagt trotzdem: Bleib.  

Wir plaudern. Er lebt seit fünf Jahren Winnyzja. „Kein echter Kriegsschauplatz, aber ab und zu gehen auch dort Raketen nieder.“ Die Ukraine hat er kurz vor Kriegsbeginn verlassen, am 14. Februar. Seine Regierung hatte ihre Bürger dazu aufgefordert. Seine Frau war damals gerade in Moskau, um ihre Schwester zu besuchen. „Es war der falsche Moment. Es war sehr gefährlich, denn sie ist anti-Regierung und der Geheimdienst ist überall, Moskau ist jetzt wie Nordkorea... Auch die Juden fliehen in Strömen, der Antisemitismus blüht.“ Dann sagt er überraschend bestimmt: „Wir werden in die Ukraine zurückkehren.“

Lilia

Eine Stunde später. Ich habe mein neues „Save Ukraine“ T-Shirt angezogen. Sie winkt mir von weitem entgegen. Strohhut, dunkle Sonnenbrille, offenes Lächeln. Trotzdem kommt nach jedem zweiten Satz ein schüchternes: „Das ist aber sehr privat...“ Wir sitzen uns auf der harten Holzbank gegenüber. Lächeln viel. Langsam plätschert ihre Geschichte heraus. In ganz leisen Worten. Der Wind bläst in mein Aufzeichnungsgerät und ich frage mich, wieviel ich später noch verstehen werde – egal. Irgendwann nimmt sie die Brille ab. Redet und redet. Ich sehe den Krieg jetzt durch ihre Augen, kalt kriecht er mir unter die Haut...

Was ihre größte Angst sei, will ich wissen. „Dass ich vielleicht nicht mehr erlebe, wie Putin vor einem internationalen Gericht verurteilt wird!“, sagt sie spontan. Und ihr größter Wunsch? „Dass der Krieg endet! Dass wir alles wieder aufbauen und einfach nur in Frieden leben können!“

Dankbar

Lilia Safonova und Gerard de Boer werden derzeit mit etwa Hundert geflüchteten Müttern, Kindern und Großmüttern im Rahmen des Projekts „Perspective Daneș„  betreut, das Liviu Tudosie und seine Frau Elena in Daneș nahe Schäßburg/Sighișoara betreiben. Ursprünglich war es gedacht, um Roma-Kindern einen Weg aus der Armut zu bieten. Nun kümmern sie sich auch um Geflüchtete aus der Ukraine. Lilia schwärmt: „Liviu ist wunderbar, Sie müssen das Projekt unbedingt erwähnen! Er holt verwahrloste Kinder von der Müllhalde und lehrt sie, sich zu benehmen, betreibt auf dem NGO-Gelände einen Kindergarten und hat nach sieben Jahren beachtliche Erfolge, einige Kinder besuchen inzwischen die Mittelschule“. Auch für die Geflüchteten hat Liviu Tudosie einen Kindergarten geschaffen, betreut wird er von den Ukrainerinnen selbst. Zweimal täglich bekommen die Kleinen dort eine warme Mahlzeit. Lena, die mit ihrer Familie auf dem Gelände wohnt, kocht. Die anderen Flüchtlinge sind bei rumänischen Familien untergebracht. Von „Perspective Daneș“ erhalten sie Kleidung und etwas Handgeld. „Die Menschen hier sind wunderbar“, schwärmt sie. 

Und gibt zu, dass sie anfangs Vorurteile hatte: „Ich dachte, Rumänien sei total unterentwickelt. Niemals hätten wir hier so viel Fürsorge und Gastfreundschaft erwartet. Ehrlich, ich wollte nicht nach Rumänien. Aber jetzt bin ich überwältigt und glücklich. Auch die Landschaft ist wunderschön und die Gebäude, obwohl manche etwas heruntergekommen sind, haben eine schöne Architektur.“ Es war ihr Mann, der entschieden hatte, das Kriegsende hier abzuwarten. Wegen der Nähe zur Grenze, aber auch, weil er das Land seit Langem kennt. Vor rund zehn Jahren hatte er als leitender Ingenieur in Craiova für eine niederländische Fensterfirma eine Pilotfabrik aufgebaut. 

Angst in Moskau

Lilia und Gerard sind seit fünf Jahren zusammen. Als sie sich kennenlernten, war sie erstaunt, dass er bereit war, zu ihr in die Ukraine zu ziehen. In Winnyzja haben sie sich kurz vor dem Krieg noch ein  Appartment gekauft. Ein paar Möbel stehen schon drin, einziehen konnten sie noch nicht. 
Im Dezember letzten Jahres flog Lilia nach Moskau, um ihre Schwester zu besuchen. Als ihr Mann ihr telefonisch mitteilte, er wolle die Ukraine verlassen, glaubte sie noch nicht an den Krieg. „Ich meine, jeder wusste, dass es im Osten des Landes über kurz oder lang krachen würde – aber bei uns sei es doch nicht gefährlich!“ Heute ist sie froh, dass sie seine Entscheidung widerstandlos akzeptiert hat. 

Als der Krieg begann, war sie immer noch in Moskau. „Es war schrecklich deprimierend, zu sehen, wie gleichgültig die Menschen dort waren. Während bei uns Städte bombardiert und Kinder getötet wurden, saßen sie entspannt in Cafes oder tanzten.“ Die russische Propaganda wirkte. „Unvorstellbar, aber sie sind alle überzeugt, dass die Ukrainer Nazis sind und die Russen dort gegen den Faschismus kämpfen. Die Russen haben kein offenes Internet und glauben, die Spezialoperation sei tatsächlich dazu da, die russischsprachigen Leute in der Ukraine zu retten!“
Lilia hatte Angst. Einer Nachbarin gegenüber hatte sie unbedacht ihren Schmerz über die Zerstörungen in ihrem Land gestanden. „Danach musste ich befüchten, dass sie mich verrät. Viele Leute schreiben Berichte über Nachbarn an den FSB, dass diese der Sonderoperation in der Ukraine nicht loyal gegenüber stehen.“ Erst als sie in Belgrad landete, war sie erleichtert.

Komplizierte Bande

Lilia ist Musiklehrerin, pendelte aber die letzten 20 Jahre als Nachhilfelehrerin nach Moskau. Ihre eigenen Wurzeln seien russisch, erzählt sie. Ihre Vorfahren, altgläubige Orthodoxe, waren nach dem Kirchenschisma in die heutige Ukraine geflüchtet. Ihre Mutter und Großmutter betrachteten die Ukraine als Heimat. Ihre Schwester lebt in Moskau. Viele Familien sind ähnlich über beide Länder verstreut. Zur Zeit der Sowjetunion interessierte sich niemand für ethnische Wurzeln. Heute aber ist die Gesellschaft durch die russische Propaganda zerrissen. Lilia erzählt von einer in Russland lebenden Mutter, die ihren eigenen Töchtern in der Ukraine nicht glaubt, was diese berichten. Das sei kein Einzelfall, betont sie. Erst vorige Nacht habe sie ein Telefonat mitgehört, ein Ukrainer klagte frustriert: Die Russen glauben, wir bombardieren uns selbst und alle Fotos sind Fake News. 
Lilia erinnert sich an 2014, als die Krim besetzt wurde. Damals arbeitete sie gerade bei einer ukrainischen Familie in Moskau. Der Vater – ein ethnischer Ukrainer – rief stolz alle Verwandten an: Endlich habe sich Putin die Krim zurückgeholt! „Ich bin keine Nationalistin“, sagt Lilia, „aber was Putin damals tat, war ein Verbrechen! Und es war schrecklich für mich, dass ich das nicht laut sagen durfte.“ Auch für die Passivität des Westens findet sie harte Worte: „Es war ein riesengroßer Fehler, dass Obama und Merkel ihm dies ohne Sanktionen durchgehen ließen. Sie behandelten ihn weiterhin als legitimen Staatsmann.“

Zerrissenes Volk

Lilia gesteht aber auch, dass sie sich manchmal schämt, ethnische Russin zu sein. Die Ukrainer verteidigen ihre Heimat und ihre Freiheit: „Das ist das Geheimnis ihrer Stärke. Sie denken, es ist besser zu sterben, als jemandes Sklave zu sein. Und die Russen zeigen überhaupt kein Ehrgefühl. Das tut mir weh!“ 

Die meisten Menschen seien überrascht gewesen, dass die ukrainische Regierung nach dem Angriff geblieben ist. Ist Selenskyj jetzt eine Art Held? „Eine Menge Leute sind stolz auf ihn. Ich auch – im Vergleich zu anderen...“. Den Satz vollendet sie nicht. Andererseits sei es nicht weise gewesen, die Minderheitensprachen per Gesetz zu unterdrücken, um den russischen Einfluss zu schwächen. Das habe das Volk nur weiter zerrissen. Und die Russen hätten es als Rechtfertigung für den Krieg ausgeschlachtet.

Viele Menschen im Osten der Ukraine verdienten ihr Geld in Russland, erklärt sie. Sie arbeiteten in den großen Städten – Moskau, Sankt Petersburg, Ekaterinburg. „Dort gibt es viel Industrie und sie dachten, Russland sei reich. Aber außerhalb dieser Städte ist ganz Russland bitterarm! Es ist reich an Gas – aber viele Dörfer oder sogar Städte haben keinen Gasanschluss. Und daran hat sich seit vielen, vielen Jahren nichts geändert.“

Nach dem Krieg, wenn sie zurückgeht, will sie an öffentlichen Diskussionen teilnehmen, sagt Lilia. „Es wird viel Kraft brauchen, alles wieder aufzubauen. Aber die Ukrainer fürchten sich nicht davor. Ich habe nur Angst, das Resultat nicht mehr zu erleben...“. 

Wir verabschieden uns mit Tränen in den Augen. „Hier fühle ich mich sicher“, bekräftigt Lilia. Doch den Deutschen möchte sie unbedingt eine Botschaft ans Herz legen: „Die Ukraine braucht Waffen – bitte! Und bitte versucht, ohne russisches Gas auszukommen! Lasst Putin diesen Krieg nicht länger weiterführen!“