Lebendige Literaturbeziehungen zwischen Rumänien und Europa

Sammelband bietet guten Überblick zur Entwicklung der Literatur und Geisteswelt Rumäniens im Dialog mit Westeuropa

Maren Huberty/Michèle Mattusch (Hrsg.): „Rumänien und Europa. Transversale“; Berlin: Frank & Timme Verlag 2009, 444 S., ISBN 978-3-86596-270-6 (= Forum: Rumänien, Band 4), 49,80 Euro

Keine Literatur und keine Kultur entwickelt sich völlig eigenständig im luftleeren Raum oder unter einer hermetischen nationalen geistigen „Käseglocke“. Dies ist gar nicht möglich, selbst wenn das Nationalisten vielerlei Zungen und Länder gerne hätten oder proklamieren. Jede kulturelle Regung lebt und entwickelt sich in Abgrenzung und Kontrast, aber auch Überschneidung mit anderen Kulturen. Besonders spannend ist es, solche Phänomene der Grenzziehungen und Grenzüberschneidungen an Literaturen multiethnisch geprägter Räume wie Rumänien zu beobachten. Der vorliegende Band „Rumänien und Europa. Transversale“ leistet genau dies und bietet eine sehr umfassende Darstellung zur Entwicklung der Literatur und Geisteswelt Rumäniens. 

In 23 Beiträgen äußern sich Autoren aus Rumänien und Deutschland. Sämtliche Beiträge sind auf Deutsch. Die beherrschende Frage ist stets die nach den Wechselwirkungen der Entwicklung des Kultur- und Geisteslebens zwischen Rumänien und seinen Nachbarländern beziehungsweise dem westlichen Europa. Zu den Autoren zählen renommierte Wissenschaftler wie der große Romanist Klaus Heitmann (Heidelberg) genauso wie jüngere Forscher.
Die thematische Bandbreite ist groß. Der interkulturelle Ansatz wird regelmäßig deutlich. Dem Verhältnis zur europäischen „Leitkultur“ widmen sich Aufsätze wie „Adrian Marino und sein Europakonzept“ (Klaus Heitmann, S. 35-52) oder „Integration – eine Chance für die rumänische Sprache“ (Rodica Ştefan, S. 417-436), aber auch eine Darstellung zur Wirtschaftskommunikation als interkulturelle Herausforderung (Anke Pfeifer, S. 83-102).

Die Prägung bedeutender rumänischer Intellektueller oder ganzer Bewegungen durch die Begegnung mit den kulturellen Strömungen Westeuropas und die besondere Rolle westlicher Intellektueller für die rumänische Kultur bilden ein weiteres Kernthema des Bandes. Die hier gebotene systematische Zusammenschau vieler Beispiele ermöglicht Vergleiche und macht die Sammlung besonders wertvoll.
Dabei werden unter anderem Lucian Blaga, Emil Cioran und Titu Maiorescu dargestellt (Florin Oprescu: „Der Wiener Expressionismus – Bezugspunkt für Lucian Blagas ästhetische Entwicklung“, S. 147-158; Iosif Cheie-Pantea: „Der Sinn des Leidens bei Emil Cioran und Friedrich Nietzsche“, S. 213-226; Florin Manulescu: „Titu Maiorescu – Schriftsteller in deutscher Sprache?, S. 135-146). Besonders aufschlussreich ist auch der Aufsatz „Rumänische Studenten der Humboldt-Universität im 19. Jahrhundert und ihr Beitrag zum Aufbau des modernen Rumänien“ (Mircea Anghelescu, S. 103-120).

Hochinteressant und aufschlussreich sind die Beiträge zu sprachlich-philologischen Fragestellungen. Sandra Sora stellt in „Die Vielfalt des lexikalischen Adstrats im Rumänischen“ (S. 323-346) einen Überblick über Spracheinflüsse auf die rumänische Sprache vor – vergnüglich und spannend zu lesen. Einer der besten Beiträge stammt wohl von Ioana Scherf. Sie untersucht „Weltbildüberschneidungen – Glück und Unglück in deutschen und rumänischen Redewendungen“ (S. 375-390) und markiert auch Mentalitätsunterschiede, wenn sie etwa schreibt: „Im Rumänischen ist Glück ein magischer Begriff, eher metaphysisch, da er nicht ‚irdisch‘ materiell, sondern eher ideell ist“ (S. 389).  

Ausführungen zur historischen Sprachentwicklung und Sprachbeurteilung bilden interessante Seitenaspekte des Themas. Die Relecture und aktuelle Interpretationen von Klassikern der rumänischen Literatur stellen innovative Sichtweisen vor. Hier seien „Literatur der Grenzen und Grenzen der Literatur – Der Fall Mihail Sebastian“ (Simona Antofi, S. 227-244) und „Mehrfach gebundene Identitäten und Darstellungs-Klischees in La belle Roumanie von Dumitru Ţepeneag“ genannt (Ingrid Baltag, S. 263-290).
Ein Grundmotiv der rumänischen Geistes- und Literaturgeschichte ist das Bemühen, ja Eifern um Verwestlichung und legitimierende westeuropäische Anerkennung. Eugenia Bojoga („Zentrum und Peripherie in der rumänischen Literatur der Republik Moldau“, S. 291-322) spricht hier vom „Postulat der Notwendigkeit einer Orientierung des rumänischen literarischen Diskurses an westlichen Modellen“ (S. 292) und von „Drang nach Alterität, nach dem kulturellen Dialog mit der zivilisierten Welt“ (S. 298).

Die Überwindung der peripheren eigenen Lage in Südosteuropa wird dann zum Ziel und Maßstab, oft unter Vernachlässigung oder Verdrängung des Ureigenen. Wie relativ solche Selbstmarginalisierungen bis hin zur Selbststigmatisierung sind, beschreibt Bojoga, wenn sie darstellt, dass für andere hinwiederum Rumänien aus der Sicht der eigenen Peripherie zum Zentrum und Maßstab wird: die Literatur der Moldau sucht Anerkennung in Rumänien.
Eine sehr berechtigte Kritik an mancher westeuropäischen Kolonialherrenmentalität gegenüber Rumänien und (Süd-)Osteuropa findet sich bei Anke Pfeifer. Sie schreibt treffend: „Die Forderung an Mitglieder anderer Kulturen, sich den westlichen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen anzupassen, findet sich meines Wissens zwar in Bezug auf die  ost- bzw. südosteuropäischen Adressaten, nicht aber beispielsweise bezüglich asiatischer Länder. Im Gegenteil wird in diesen Fällen an die Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit westlicher Manager appelliert.“ (AS- 96)

In fast allen Beiträgen ist Bewegendes, Erhellendes und Spannendes zu erfahren, sie überzeugen nach Inhalt, Form und Stil. Nur sehr wenige enttäuschen und vermitteln den Eindruck selbstverliebter Geschwätzigkeit. Befremdend ist die Gleichsetzung „rechtsnationalistisch-konservativ“ mit „rassistisch“, die bei Mariana-Virginia Lăzărescu begegnet. Die Begriffe rechtsnational, konservativ und rassistisch sollten nicht synonym verwendet werden, das ist Krampf. Nicht jede nationale, rechte und konservative Haltung ist gleichzusetzen mit rassistisch. Entweder führt hier Ideologie die Feder oder sprachliche Ungenauigkeit. Die Lektüre des Bandes lohnt – von solchen kritikwürdigen Petitessen abgesehen – überaus.