Lehren aus der Volkszählung in der Slowakei  und der Option einer zweiten Nationalität

Der Originalartikel ist Ende Januar 2023 in der Zeitung „Új Szó“ erschienen

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Die Debatte über die 2021 in der Slowakei durchgeführte Volkszählung drehte sich weitgehend um die Frage der Deklarierung der doppelten Nationalität. Daraus können bestimmte Lehren gezogen werden. Gleichzeitig gibt es noch wichtige Fragen, die bisher in der Debatte nicht aufgeworfen wurden.

Die rechtliche Relevanz der doppelten Nationalität

Die rechtliche Bewertung der doppelten Nationalität ist wenig relevant, denn die Nationalität (Anm. d. Red.: hier im Sinne von ethnischer Zugehörigkeit) wird nur im Gesetz über die Verwendung von Minderheitensprachen direkt berücksichtigt. Auch dort ist es von geringer Bedeutung, ob beide Nationalitäten oder nur die zuerst genannte beachtet wird. Das Gesetz sorgt auch nicht wesentlich dafür, dass in den Gemeinden auf der Liste öffentliche Dienstleistungen in einer Minderheitensprache angeboten werde – was in anderen Ländern Aufgabe solcher Gesetze ist. Die Tatsache, dass ein Dorf mit z.B. 17 Prozent ungarischen Einwohnern auf die Liste gesetzt wird, bedeutet keineswegs, dass es dort daraufhin mehr ungarischsprachige Beamte, Ärzte oder Polizisten gibt, oft gibt es nicht einmal zweisprachige öffentliche Beschilderung, obwohl das Gesetz dies als Verpflichtung und nicht als Option definiert. Dies sind Folgen lokaler Entscheidungen, auf die weder das Gesetz noch die Volkszählungsdaten einen direkten Einfluss haben.

Indirekt wird die Nationalität auch in anderen Gesetzen berücksichtigt, aber dort geht es immer um die politische Interpretation der Zahlen, wie die betreffende Gemeinschaft im Gesetzgebungsverfahren definiert wird. Das war in der Vergangenheit so und wird auch in Zukunft so sein. 

Obwohl es Grund zur Zuversicht gibt, dass sich eine gute Praxis entwickeln wird und die beiden Nationalitäten als vollwertig akzeptiert werden, ist diese Frage noch nicht geklärt – und auch nicht die wichtigste. Von Bedeutung wäre es, wenn es eine wirksame Minderheitenpolitik gäbe, die den Bürgern automatisch aufgrund ihrer Nationalität die Dienstleistungen gewährte, die den Bürgern slowakischer Nationalität zur Verfügung stehen, um den Nachteil der Minderheiten auszugleichen.

Als ein Argument wurde angeführt, dass der konkrete Nutzen der doppelten Nationalität darin liegen wird, dass eine effektivere Minderheitenpolitik in Zukunft auf den höheren Zahlen aufbauen kann, die durch die derzeitige Angabe der doppelten Nationalität erreicht wurden. Dahinter steckt Logik. 

Eine effektive Minderheitenpolitik baut aber auch auf den sprachlichen Kompetenzen der Bevölkerung auf (auch auf anderen Daten), daher wäre es wichtig, dass die Volkszählung auch die Sprachkenntnisse der Bevölkerung erfasst, was bisher nie der Fall war. Das wäre sinnvoller gewesen als die Möglichkeit der doppelten Nationalität – eine weitere verpasste Gelegenheit.

Nationalität als Ausdruck der Identität

Eines der Hauptargumente für die doppelte Nationalität war, dass sie die Identität von – zumindest einigen – Menschen besser widerspiegelt. Ich denke, das dies ein zutreffendes Argument ist. Gegenargumente, dass man nur eine einzige Identität haben könne, sind völlig unbegründet. In einer Mischehe oder innerhalb einer Mehrheitsgesellschaft ist die Identitätsfrage soziologisch oft komplex.
Das Argument stößt auch auf Grenzen: Denn die Volkszählung ist in erster Linie kein Instrument zum Ausdruck der Identität. Sie ist vielmehr ein Werkzeug der Politik, das effektiv ist, wenn es mit klaren Kategorien arbeitet. Daher ist es in Ländern mit ausgeprägten Minderheitenrechten nicht ungewöhnlich, dass einer Person nur eine Nationalität zugewiesen wird. Dieser Ansatz beruht darauf, dass die meisten Menschen, auch die mit mehrfacher Identität, in der Regel nur eine Sprache für staatliche Dienstleistungen nutzen. 

Es gibt daneben aber viele andere Bereiche, in denen die „Mosaik-Identität“ ausgelebt wird und der Staat sie nicht behindert, sondern unterstützt – aber eine effektive Minderheitenpolitik kann sie nicht unterstützen. Grundlage ist, wie viele Personen vorwiegend eine bestimmte Sprache sprechen und an der Erhaltung dieser Kultur interessiert sind. Dieses Gegenargument wird in Bezug auf die Slowakei durch die bedauerliche Tatsache gemildert, dass wir hier nicht von einer effektiven Minderheitenpolitik sprechen können.
Die Gegner der doppelten Nationalität wurden von der Gegenpartei mit stark rechtsradikalen Untertönen als Nationalisten dargestellt. Meiner Meinung nach haben die Befürworter jedoch den historischen Erfahrungshorizont der ungarischen Minderheit in der Slowakei ignoriert: Denn schon oft wurde die Identität der ungarischen Minderheit durch Vertreter des slowakischen Staates in Frage gestellt. Es wurde behauptet, dass die hier lebenden Ungarn keine „echten“ Ungarn seien, dass ihre Sprache keine „echte“ ungarische Sprache sei. Diese Argumente hatten das politische Kalkül, die ungarische Gemeinschaft in der Slowakei durch eine Loslösung von Ungarn zu integrieren.

Ich denke nicht, dass diese Argumente die Ablehnung der doppelten Nationalität rechtfertigen, aber sie zeigen, dass aufgrund der Erfahrungen bei der Einführung einer solchen Änderung seitens des Staates klare Botschaften erforderlich sind. Denn problematisch ist die Unsicherheit der Bürger bei der Einführung der Angabe einer doppelten Nationalität. Das Problem ist nicht, wofür der Staat die zweite Nationalität tatsächlich nutzen wird, sondern, dass viele im Vo-raus besorgt sind, wofür er sie zu nutzen plant. Sie hätten vor der Volkszählung eine klare Antwort verdient.

Die Volkszählung als Thema nationaler Ängste

Der Zensus erregt bei uns nicht aufgrund der rechtlichen Konsequenzen großes Interesse, sondern weil viele auf dessen Basis die Lage der ungarischen Gemeinschaft in der Slowakei, politische Leistungen und die Minderheitentoleranz des Staates interpretieren.

Aufgrund der Angabe einer zweiten Nationalität sind die Ergebnisse nicht direkt mit den Zahlen der vorherigen Volkszählungen vergleichbar. Wir wissen nicht, wie viele sich als Ungarn deklariert hätten, wenn nur eine Nationalität zur Auswahl gestanden hätte. Allerdings sind sich die mir bekannten Soziologen einig, dass die Gruppe, die sich 2011 als ungarisch deklarierte (damals 458.467 Personen), heute größtenteils der Gruppe entspricht, die als primäre Nationalität die ungarische gewählt hat (422.065 Personen). Dies sind somit 36.402 Personen weniger. Ein ähnliches Ergebnis erhalten wir bei einem Vergleich der Daten zur Muttersprache, wo es keine doppelten Angaben gibt: 2011 waren 508.714 Personen ungarischsprachig, 2021 waren es 462.175 Personen.

Zudem erscheint jetzt eine neue Gruppe von 34.089 Personen, die „ungarisch“ als zweite Nationalität angaben. Sie fehlten bei der letzten Volkszählung in der Gruppe der Ungarn. Da-durch gibt es nun eine größere Gruppe, die derzeit 456.154 Menschen umfasst, die sich zur ungarischen Nationalität bekennt. Aller-dings besteht in der Slowakei immer noch das „ungarische Paradox“, dass es vor zehn Jahren 458.467 Ungarn im Land gab, jetzt sind es also 2313 weniger. In der Zwischenzeit ist die Zahl der Ungarn tatsächlich um 36.402 (oder 46.539 basierend auf der Statistik zur Muttersprache) zurückgegangen.

Der nur „leichte“ Rückgang veranlasste unsere ungarischen Politiker zu Jubelrufen. Sie schrieben diesen „großen Erfolg“, insbe- sondere der guten Arbeit der beiden Parteien Híd und MKP zu, die die Interessen der ungarische Minderheit in der Slowakei vertreten. Ich sehe hier eher eine Selbsttäuschung und Täuschung der Öffentlichkeit. Die Einführung der zweiten Nationalität bedeutet einen einmaligen statistischen Überschuss. Natürlich wird es die Anzahl der Ungarn erhöhen, wenn eine neue Gruppe in die Statistik aufgenommen wird, die der bereits vorhandenen Gruppe hinzugefügt wird. Das bedeutet jedoch keine tatsächliche Erhöhung. Ich glaube nicht, dass unsere politische Vertretung allein oder auch nur hauptsächlich für den Rückgang verantwortlich ist, da viele Faktoren außerhalb ihrer Einflusssphäre liegen.

Die Lehren?

Wie sollen wir also mit der doppelten Nationalität umgehen? Ich habe mehrere Argumente dafür und dagegen aufgeführt, aber wenn man sie auf unsere eigene Situation anwendet, denke ich, dass nur eines wirklich zählt: Es gibt Menschen mit doppelten Identitäten, und es ist unfair, sie in eine Identitätskategorie zu zwängen. Es ist kein starkes Argument, aber es ist immer noch das stärkste, das wir haben.

Es bleibt ebenfalls ein schwaches Argument, dass eine effektive Minderheitenpolitik eine einheitliche nationale Identität erfordert. Eine Politik, die nicht die Grundrechte als „Möglichkeit“ definiert und die Kosten den Gemeinden auferlegt. Eine Politik, die den zweitklassigen Status nicht als „Passivität“ ideologisiert und diejenigen, deren Muttersprache nicht slowakisch ist, für ihre Benachteiligung verantwortlich macht.

 Eine Politik, die tatsächlich in der Lage ist, eine echte Gleichheit zwischen Bürgern auf sprachlicher Ebene herzustellen und die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Situation der ungarischen Gemeinschaft stabilisiert wird. Dies ist der wahre Einsatz der Volkszählung, und ich hoffe, dass die Debatten in Zukunft über die Natur dieses Systems geführt werden.


In der Slowakei hatte die Volkszählung 2021 – die erste in elektronischer Form – ganz besondere Bedeutung: Erstmals wurden die primäre und die sekundäre Nationalität abgefragt.

„Új Szó“ (Neues Wort) ist die einzige ungarischsprachige Tageszeitung in der Slowakei. Sie erscheint sechs Tage die Woche, mit verschiedenen Themen- und Sonderwerbebeilagen. Die Leserschaft der Tageszeitung ist stabil, da sie über Probleme berichtet, die ihr Leben betreffen und relevante Informationen und aktuelle Nachrichten aus ihrer Region bietet. Új Szó wird regelmäßig von jedem fünften in der Slowakei lebenden Einwohner ungarischer Nationalität gelesen. Die Webseite ujszo.com ist das meistbesuchte ungarische Nachrichtenportal in der Slowakei mit fast einer halben Million monatlicher Leser und mehr als 10 Millionen Downloads.