„Lügen von epischer Dimension“

Randbemerkungen

Parallel zum sinkenden Interesse der internationalen Medien für die Aggression Russlands gegen die Ukraine – das sieht man u.a. auch an der Stelle, wo (wie oft und wie lang) jetzt die Nachrichten zum Krieg in unserer Nachbarschaft gedruckt werden, aber auch daran, dass in den gesprochenen oder gezeigten Nachrichten kaum noch die Ukraine erwähnt wird – und zu den Zweifeln, die der russische Rückzug aus Cherson geweckt hat (Strategie? Falle? Taktik? Beweis für die militärische Unfähigkeit der Russen? Nachweis ihres Mangels an Kampfmoral? Organisierungsschluderei? ...) kommt das Meinungschaos aus Moskau, wo selbst die so manipulationsgewandten offiziellen Sender des Kremlins um die richtigen Worte ringen. „Abzug“?? „Umgruppierung“? „Rückzug wegen Versorgungsengpässen“? Was klingt besser in Putins Ohren und beim Volk – ohne es zu verstören?

Außer Frage scheint bloß zu stehen: Die russischen Truppen haben sich nicht ohne Zwang, also keineswegs freiwillig, aus Cherson, der einzigen von ihnen eroberten Hauptstadt einer ukrainischen Oblast, zurückgezogen. Das geben sogar russische Experten zu. Diejenigen unter ihnen, die dem Putin-Regime im (engen) Rahmen des Möglichen kritisch gegenüberstehen, meinen, mit Cherson werde die Reaktion getestet, um „die Bevölkerung auf den allgemeinen Rückzug vorzubereiten“ (Tatiana Stanowaja). Für den offen regimekritischen Politologen Walerij Solowej handelt es sich um mehr als eine verlorene Schlacht, um „eine schändliche Niederlage“. Was hieße, dass es dafür Verantwortliche geben müsste...

Nach mehr als 70 Jahren Indoktrinierung und Aufputschung der Russen zum Thema der unbesiegbaren Roten Armee, die allein den weltbedrohenden Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg niedergerungen hat und jetzt gegen die „Faschisten“ aus Kiew mittels einer Sonderoperation ausgeschickt werde, muss man jetzt den durch ihre Erziehung  gutgläubigkeitsbereiten Muschiks im Schnellverfahren die bittere Pille einer Siegunfähigkeit ihrer unbesiegbaren Armee so zuckern, dass sie auch Rückzüge und sogar Niederlagen kommentarlos schlucken. Immerhin versucht der in der Ukraine kommandierende (als „Schlächter“ bekannte) Sergej Surowikin den Vorgang als taktischen Rückzug zu erklären, einerseits, weil damit eine Einkesselung seiner am rechten Dnjepr-Ufer befindlichen Truppen vermieden wurde, andrer-seits, weil sie am linken Ufer des Flusses eine strategisch bessere Position beziehen können und weil, drittens, mit dem Rückzug aus Cherson die Versorgung der Truppen reibungsloser vonstatten gehen werde. Eine Reihe gesprengter Brücken habe die Versorgung erheblich erschwert und unrhythmischer werden lassen, heißt es (dem widersprechen allerdings die russischen Kriegsbefürworter, die fast zeitgleich konterten, es gäbe mindestens einen alternativen Versorgungsweg...).

Der Ukraine tut dieser Rückzug und die damit verbundene nationale Euphorie natürlich gut. Immerhin habe sie, bis zum erzwungenen Rückzug der Russen aus Cherson, 41 Ortschaften „zurückerobert“, hat ihr Präsident verkündet, und auch beim Drohnenangriff auf die russische Schwarzmeerflotte (laut Russen war diese von den Engländern ausgedacht und koordiniert...) seien mehr Kriegsschiffe kampfunfähig gemacht worden als von den Russen („ein Minensuchschiff“) zugegeben – vielleicht auch das neue Admiralsschiff, die Fregatte „Admiral Makarow“ (die statt des zum Sinken gebrachten Kreuzers „Moskwa“ eingesetzt wurde).

Die Engländer haben für die russischen Behauptungen über ihre angeblich direkten geheimen Kriegshilfehandlungen nur ein spöttisches „Lügen von epischer Dimension“ übrig. Sollte aber an den russischen Behauptungen etwas dran sein, dann haben wir es mit einer bedenklichen Entwicklung zu tun: Die Nato und Russland gelangen zunehmend in Direktkontakt.