Migration – Europas Chance oder Untergang?

Diskussionsveranstaltung in Bukarest zur Problematik der Migration in und nach Europa

Botschafter Andreas von Mettenheim eröffnete die Konferenz.
Foto: die Verfasserin

Am vergangenen Mittwoch fand im Hotel Intercontinental in Bukarest eine vom „German Marshall Fund of the United States“  im Rahmen des Projektes „Black Sea Trust for Regional Cooperation“ veranstaltete Debatte zum Thema „EU und Migration“ statt. Als Panelteilnehmer waren Experten aus Brüssel, Vertreter des rumänischen Arbeits- und des Außenministeriums und der Akademischen Gesellschaft in Rumänien geladen.

Der deutsche Botschafter, Andreas von Mettenheim, eröffnete die Veranstaltung mit einer kurzen Präsentation zur Lage in Deutschland, wo 15 Millionen Einwanderer leben, davon 35 Prozent aus EU-Ländern. In Kürze werde Deutschland eine Entscheidung fällen, ob die Einschränkung des Zugangs zum deutschen Arbeitsmarkt für rumänische Arbeitskräfte ab 2012 weiter aufrecht erhalten wird.

Grundwerte der EU  auf dem Prüfstand

Die EU-Verfassung sieht Freizügigkeit als Grundrecht an. Wie kommt es, dass dieses hohe Gut statt als Chance auf einmal als Bedrohung empfunden wird? Was einst als europäisches Ideal begann, hat längst einen schalen Beigeschmack bekommen. In erster Linie ist es jedoch der Mangel an Aufklärung, der Ängste schürt und nationalistische Haltungen auslöst. Denn tatsächlich ist legale Migration unverzichtbar für Europa.

Ein weiterer zentraler Wert der EU ist der freie Wettbewerb. Der aber ist ohne Freizügigkeit der Arbeitskräfte nicht möglich. Umso erstaunlicher, dass nun 11 der 27  Mitgliedsstaaten – darunter Österreich, Belgien, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Spanien, Malta und Großbritannien – in Erwägung ziehen, diese Kernwerte der EU zu opfern und über Einschränkungen für rumänische Staatsbürger nachzudenken.

Wie die Publikumsreaktionen zeigen, vermutet man als Ursache sofort wieder die Romaproblematik, auch wenn Botschafter von Mettenheim ausdrücklich betonte, dies sei kein Aspekt in der Diskussion um den Schengen-Beitritt Rumäniens gewesen. Doch unbestritten nagt an vielen Menschen hierzulande das alte Trauma, dass ausländische Statistiken über Straftaten durch Migranten aus Rumänien nicht zwischen Roma und Rumänen unterscheiden.

Wie sollten sie auch? Denn wer die rumänische Staatsbürgerschaft besitzt, ist per Definition Rumäne, auch wenn interne ethnische Empfindlichkeiten eine andere Sichtweise suggerieren. Verständlich aber auch die Frustration.

Politisch hoch komplex – öffentlich einseitig präsentiert

Staatssekretär Mocanu aus dem rumänischen Ministerium für Arbeit, Familie und Sozialschutz warnt jedoch davor, die Problematik der Gesetzesbrecher im Ausland mit legaler Migration von Arbeitskräften zu verwechseln. Das Phänomen Migration ist komplex, dem Zusammenspiel aller Aspekte in der Realität schwer Rechnung zu tragen. Hinzu kommt, dass Presse und rechtsorientierte Parteien sich wie Aasgeier auf die negativen Aspekte stürzen, positive Auswirkungen hingegen kaum publik gemacht werden.

Angst schüren ist eben leichter als aufklären, außerdem bringt Sensationsmache Leser und Wählerstimmen ein. Wie wichtig Aufklärung ist, betont auch der deutsche Botschafter: Laut einer Studie sind nur 40 Prozent der befragten Deutschen der Ansicht, dass Einwanderer die Gesellschaft bereichern. Dabei überschätzen vor allem Menschen, die tatsächliche Daten nicht kennen, die Anzahl der Imigranten, während Leute mit Zugang zu Information über Migration Einwanderer seltener als Bedrohung empfinden.

Übereinstimmung unter den anwesenden Experten herrschte darüber, dass Emigration – einschließend die Zuwanderung von außerhalb der EU – essentiell für Europa ist. Es geht dabei nicht nur um die Flexibilität des Arbeitsmarktes, sondern um die Konfrontation mit einer ganz konkreten Bedrohung: die Überalterung unserer Gesellschaft. Dabei ist weniger gefährlich, dass die Zahl der Europäer abnimmt, als der drohende Verlust des Gleichgewichtes zwischen Rentnern und arbeitsfähigen Kräften.

Hinzu kommt, dass es Regionen mit Mangel an qualifizierten Arbeitskräften oder mit erhöhtem Bedarf an Saisonarbeitern gibt oder solche, in denen bestimmte Arbeiten von den Einheimischen nicht verrichtet werden wollen.

Legale Migration ist also kein Übel, sondern eine Notwendigkeit. Sie bedingt eine Auseinandersetzung mit den Folgeproblemen: sprachliche und soziale Integration im Zielland, Eingliederung ins Renten- und Gesundheitssystem, Anpassung des Bildungswesens. In den Emigrationsländern hingegen kann Brain Drain und mangelnder Rückkehrwille der Emigranten zu einem Entwicklungsstopp führen. Russland und die Republik Moldau wurden als krasse Beispiele benannt, aber auch Rumänien.

Wer etwas kann, geht ins Ausland, hört man hier oft. Aus manchen Ländern besteht gar ein Immigrationsdruck nach Europa, bedingt durch Krisen oder wirtschaftliches Gefälle. Nord-afrika, der Nahe Osten, die Länder der ehemaligen Sowjetunion, aber auch Indien und China gehören zu dieser Kategorie. Große Einwandererwellen führen zu Problemen, denn der Arbeitsmarkt in Europa ist begrenzt. Illegale Migration und Kriminalität durch Migranten sind Begleiterscheinungen, die separat betrachtet werden müssen.

„Wir haben die Kontrolle verloren“

Roderick Parkes, der Direktor des Brüsseler Büros des „German Institute for International and Security Affairs“ untersucht die Probleme der EU-Länder im Zusammenhang mit Migration. Die Öffnung für Einwanderer aus anderen EU-Staaten war für viele ein enormes Risiko, die Konsequenzen nur schwer abzusehen, meint Parkes.

Der Vorteil gilt nur für flexible Arbeitsmärkte, nicht für starre. Auch gestaltet es sich in der Realität schwierig, vor dem Hintergrund der Anforderungen an Ausbildung, Unterbringung, Gesundheit und sozialem Schutz die Balance zwischen sozialen und wirtschaftlichen Zielen zu halten. Mangelnde Einblicke oder Eingriffsmöglichkeiten in die Situation anderer Mitgliedsstaaten führen zudem zu Planungsunsicherheit.

Manche Länder sahen sich mit dem Abfluss hochausgebildeter Kräfte konfrontiert, die eher bereit sind, weit weg zu ziehen, als jene mit niedrigem Bildungsstand. Es gibt zu wenig gemeinsame Regeln – doch viele Länder sind gar nicht bereit, die gewohnten nationalen Regeln aufzugeben. Ein unerwünschter Nebeneffekt ist das zu starke Wachstum der Wirtschaftszweige, die auf unqualifizierten Kräften aufbauen. Sie ziehen weitere Migranten an, oder  gut ausgebildete Kräfte enden in unterqualifizierten Jobs.

Es gibt keine Kontrolle mehr, kritisieren Politiker der einzelnen Mitgliedsstaaten, und keinen Schutz vor illegalen Migranten, die aus anderen EU-Ländern einströmen und durch Kriminalität und Entstehung eines schwarzen Arbeitsmarktes die Integrationspolitik kaputt machen. Behörden zur Kriminalitätsbekämpfung beklagen mangelnde länderübergreifende Kooperation und unzureichende Mittel, effizient gegen ausländische Straftäter vorzugehen. „Wir haben die Kontrolle verloren“, schließt Parkes und rät: Das Einzige, was die EU jetzt tun könne, sei, die Situation ein wenig entspannter zu betrachten und gemeinsame Kontrollmechanismen zu entwickeln.

Migration ist keine nationale Angelegenheit


Zum Schutz gegen illegale Einwanderer betont Staatssekretär Bogdan Aurescu aus dem rumänischen Außenministerium die Wichtigkeit von Stärkung und Kooperation der Grenzpolizeien. Er schlägt die Bildung einer mobilen internationalen Polizeieinheit vor, die je nach Bedarf an einen beliebigen Grenzort entsandt werden kann.

Bernd Hemingway, der regionale Vertreter der Internationalen Organisation für Migration in Brüssel, ergänzt jedoch Aspekte, die über die Interessen der EU-Länder hinausgehen. „Migration ist keine nationale Angelegenheit“, betont er und verweist auf Flüchtlinge aus Krisenregionen – klar ein humanitäres Problem. 700.000 Flüchtlinge drängten aus Libyen nach Ägypten und Tunesien, davon nur drei Prozent nach Europa.

Ohnehin wollen diese später meist zurück. Anders als die Mehrzahl der Migranten aus Osteuropa, wie Alina Mungiu-Pippidi, die Präsidentin der Akademischen Gesellschaft in Rumänien, betont. Diese erwerben oft hohe Qualifikationen im Ausland, doch an eine Rückkehr denken sie nicht. Emigrationsstaaten müssten Interesse zeigen, das Land für abgewanderte Kräfte wieder attraktiv zu machen. „Wir brauchen Erfolgsbeispiele von Rückkehrern, nicht nur von Auswanderern!“ meint die Wissenschaftlerin.

Langfristig bedenken müsse man auch Migrationswellen durch Klimaveränderungen und den Anstieg des Meeresspiegels, warnt Hemingway. Man könne vor diesen nicht einfach die Grenzen verschließen. Nur mit einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik, einem gemeinsamen Krisenmanagement, aber auch durch Gespräche mit Emigrationsländern außerhalb der EU, ließe sich diesen Problemen begegnen.

Die Musterlösung gibt es nicht

Dass Migrationsprobleme dringend gelöst werden müssen, liegt auf der Hand. Jede Verzögerung kostet Lehrgeld, meint Pippidi, sonst bestünde die Gefahr einer Desintegration. Die Überlegungen einiger Staaten zur Rücknahme einst vereinbarter, zentraler Werte der EU sei bereits ein ernstes Zeichen. Wie also könnten Lösungsansätze aussehen?

Hemingway schlägt vor, mehr auf die Presse zu setzen. Verzerrte Berichterstattung und Angstmache müssten durch Aufklärung ersetzt werden. Es gibt viele Beispiele und Studien, die positive Aspekte der Migration bestätigen. Mocanu ergänzt: Migration hat die Löhne in den Zielländern kaum verändert, doch das wissen die wenigsten Menschen.

Auch gibt es Länder, die bereits eine sehr gute Integrationspolitik betreiben und anderen als Vorbild dienen können, etwa Spanien und Griechenland. Auch die lokale Diaspora leistet einen Beitrag zur Integration und kann stärker eingebunden werden.Wichtige Ansätze wären eine gemeinsame EU-Policy zu Asylangelegenheiten, Grenzkontrollen, Steuerangelegenheiten sowie Gespräche mit Krisen- und Emigrationsländern.

Die größte Herausforderung liegt jedoch in den Gegensätzen: Migration ja oder nein, das ist nicht die Frage. Soll man sich aber auf eine schnelle Lösung einigen und damit Geld sparen, oder auf eine langfristige, die in Anbetracht geplanter EU-Erweiterungen und den damit verbundenen Kosten problematisch ist? Soll man Teillösungen für weitere Beitrittsstaaten anstreben und Werteänderungen einzelner Mitglieder akzeptieren, oder weiterhin an einem konservativen europäischen Strang ziehen? „Wir haben doch erst 12 Jahre Migrationspolicy hinter uns, wir sind immer noch in der Entwicklungsphase“, beruhigt der Brüsseler Experte Hemingway.
Das europäische Wunschkind hat wohl nur eine etwas schwere Geburt...