„Nicht ich habe es gemacht. Die Situation hat mich dazu gezwungen“

Hermine Jinga-Roth und ihr Sozialprojekt in Reußdörfchen

Durch ihren Einsatz veränderte Hermine Jinga-Roth zusammen mit ihrem Ehemann Ioan Jinga ihr Heimatdorf Reußdörfchen.

Kirche, Pfarrhaus und alte Schule in Reußdörfchen. Nicht nur, dass sie die Kirche im Dorf ließen, Hermine und Nelu haben sie erneut zum Mittelpunkt des Dorfes werden lassen. | Fotos: Roger Pârvu

Samstag, 9. Dezember 2023. In Reußdörfchen/Rusciori bei Hermannstadt/Sibiu kann man den Winter nur anhand der Kälte erkennen. Ein doch etwas trüber Tag. Vor manchen Toren im Dorf, in der Ecke, in der die Roma wohnen, werden auf der Straße Schweine geschlachtet. Wer schon einmal vor längerer Zeit das Dorf besucht hat, stellt mit Erstaunen fest, dass die virtuelle Grenze zwischen dem Roma-Viertel und dem Rest des Dorfes nicht mehr existiert. Unbemerkbar fließt der rumänische Teil des Dorfes in den ehemals sächsischen über, in dessen Mitte die kleine evangelische Kirche und die alte Dorfschule steht, und der seinerseits nahtlos, jenseits der Brücke in das Roma-Viertel übergeht. 

Die baufälligen Häuser, in denen die Roma einst wohnten, gehören der Geschichte an. Heute wird der Zugang zu den Höfen der meist gut gepflegten und verputzten Häuser hie und da von mit goldenen Löwenköpfen verzierten Toren versperrt. Auch die Autos davor können sich sehen lassen. So gut wie keine Dacia mehr, sondern eher deutsche Automarken.

Die Anfänge

Kurz vor 11.00 Uhr versammelt sich im Hof der kleinen evangelischen Kirche eine überschaubare Menge. Alle sind der Einladung von Ulrike Pistotnik gefolgt, einer pensionierten Lehrerin aus Österreich, die in Siebenbürgen Dank ihrer Initiativen relativ bekannt ist. An diesem Tag sollen zwei Personen gewürdigt werden, die Reußdörfchen verwandelt haben: Hermine Jinga-Roth und ihr leider vor Kurzem verstorbener Gatte, Ioan Jinga, allen als Nelu bekannt. 

Vor 33 Jahren, gleich nach der Wende, wurde das Ehepaar in Hermines Heimatort aktiv. Sie übernahmen das damals leerstehende Pfarrhaus und gründeten den bekannten Kinderbauernhof. Hier sollten im Sommer Stadtkinder in direkten Kontakt mit dem Leben auf dem Land treten. In ihrer langjährigen Tätigkeit als Lehrerin und Direktorin am Goethe-Lyzeum in Bukarest war Hermine Jinga-Roth die Distanz zwischen den Stadtkindern, meist aus Familien mit überdurchschnittlichem Einkommen, und der Wirklichkeit des Dorflebens aufgefallen und hier wollte sie eine Brücke schlagen. Mehr als 500 Kinder pro Sommer kamen auf den Bauernhof und erlebten, manche zum ersten Mal in ihrem Leben, eine lebendige Kuh oder ein „echtes“ Schwein. Sie lernten die Pflanzenwelt kennen. Sie durften beim Melken oder beim Schweineschlachten dabei sein. Dabei verbesserten sie auch ihre Deutschkenntnisse. 

Doch wer mit den Augen so offen wie Hermine und Nelu durch die Welt geht, kann die Not vor der eigenen Haustüre nicht ignorieren. Einerseits waren da die Kinder, die den Bauernhof besuchten, und jenseits des Zauns des Pfarrhauses, nur ein paar Straßen entfernt, die Kinder der Roma-Familien, die nicht wussten, ob der nächste Tag auch etwas zu essen mitbringen wird, geschweige denn, dass sie zur Schule gingen. Der Zaun, der diese Kinder voneinander trennte, störte Hermine und Nelu. Die beiden erkannten Handlungsbedarf, krempelten die Ärmel hoch und fingen an, den sogenannten Armutskreis im Dorf zu durchbrechen. 

„Mit einem Glas Milch und einem Kipferl wurden die ersten Roma-Kinder in das Tagesszentrum gelockt“, erinnert sich Ulrike Pistotnik, eine der ersten Förderinnen des Projekts. Die pädagogische Erfahrung sagte Hermine und Nelu, dass nur mittels Bildung eine langwierige und anhaltende Veränderung im Leben der im Dorf ansässigen Roma bewirkt werden konnte. Man ging von Roma-Haus zu Roma-Haus und versuchte die misstrauischen Eltern zu überzeugen, die Kinder in die Schule und in das Tageszentrum zu schicken. Das Vorhaben: Die Kinder sollten die Schule wenigstens bis zur verpflichtenden achten Klasse besuchen und wenn es gut ging, dann noch eine weiterführende Ausbildung absolvieren. So sollten die Chancen auf einen Arbeitsplatz gesteigert werden, um letztendlich dadurch die Lebensbedingungen im Dorf zu verändern. 

Die Skepsis war groß. Von fast allen Seiten. Mircea Marcu, Vizebürgermeister von Kleinscheuern/Șura Mică, zu welchem Reußdörfchen verwaltungstechnisch gehört, der den Feierlichkeiten beiwohnte, sagte in den ersten beiden Jahren, damals war er sogar Bürgermeister, so oft Hermine Jinga-Roth bei ihm aufkreuzte: „Mai lasă-mă cu țiganii tăi“ (Lass mich in Ruhe mit deinen Zigeunern). Er sollte aber über die Jahre zu einem der wichtigsten Unterstützer und Förderer des Projekts werden. „Auch weil man Hermine einfach nicht ‚Nein‘ sagen kann“ erinnerte er sich während seiner Ansprache.

Ein Dorf verändert sich

Parallel dazu wurde das Pfarrhaus saniert, die alte Schule auch übernommen und instand gesetzt. Eine bewegte Zeit, erinnert sich Hermine. So zum Beispiel wurden die Wasserrohre für das Pfarrhaus aus Bukarest gespendet. Nur wusste man nicht, wie man diese nach Reußdörfchen bringen sollte. Einmal gemessen – und die Frauen hatten die Lösung: man bringt sie mit dem Zug. Skeptisch hoben die Männer die Augenbrauen und versuchten, zu erklären, dass dies nicht durchführbar sei. Sie wurden eines Besseren belehrt, als sie die Rohre am Hermannstädter Bahnhof abholen mussten.  

Gleichzeitig stieg aber auch die Anzahl der Unterstützer. Denn Hermines und Nelus Treibkraft hatten für ihren Bekanntenkreis Reußdörfchen zum Nabel der Welt werden lassen. So wurde auch das Programm für ein Freiwilliges Soziales Jahr für junge Erwachsene ins Leben gerufen. Zwei bis vier Freiwillige pro Jahr wurden von verschiedenen deutschen Einrichtungen über viele Jahre nach Reußdörfchen entsandt. Manche sind bis heute dem Projekt verbunden geblieben und helfen weiterhin bei der Mittelakquise. 

Der Erfolg sollte nicht auf sich warten lassen. Immer mehr Kinder kamen ins Tageszentrum. Man verhalf den Eltern zu Fortbildungen oder Arbeitsstellen. Man bewirkte eine größere Toleranz im Dorf. Langsam verschwand die virtuelle Grenze, die entlang der Brücke verlief. 2016 soll der Leiter des Kreispolizeiamtes während eines Treffens im Rahmen der Präfektur gesagt haben, dass das einzige Dorf, in welchem seine Mitarbeiter zur Lösung von interethnischen Konflikten seit mehreren Jahren nicht mehr im Einsatz gewesen seien, Reußdörfchen sei. „Alles nur wegen dieser alten Sächsin“, soll er hinzugefügt haben. 

Hermine Jinga-Roths Tatkraft sprühte jedem Besucher regelrecht entgegen. Sie ging in ihrem Projekt so sehr auf und hatte immer viel zu erzählen. Wie das Dorf gewesen war, als sie zurückgekehrt war, wie der Stand der Dinge in dem betreffenden Augenblick war und wohin die Reise führen sollte, sodass unmerklich jeder Besuch doppelt so lange dauerte wie geplant.  

Zeitgleich veränderte sich auch das Dorfbild. Die Lehmstraßen wurden geteert. Die Wasserversorgung modernisiert. Für die Verwaltung waren Hermine und Nelu die wichtigsten Ansprechpartner geworden, wenn es um die Roma im Dorf ging. Mit der Zeit wurde Reußdörfchen ein Dorf wie jedes andere in der Hermannstädter Umgebung. 

Das ursprüngliche Ziel des Ehepaares Jinga-Roth, dass alle Kinder im Dorf einen Schulabschluss in einem anerkannten Format erwerben, ist inzwischen Wirklichkeit geworden. „Jetzt gehen alle in die Schule, sogar die Mädchen“, berichtete Ulrike Pistotnik während ihrer Ansprache. 

„...ich hätte vieles besser machen können“

Wer Hermine Jinga-Roth kennt, weiß, dass ihr die ganzen Ansprachen, die ihr Wirken würdigen, nicht wirklich bekommen. „Nicht ich habe das alles gemacht, sondern die Situation hat mich dazu gezwungen. Ich habe nichts anders getan, als das, was jeder Mensch, jeder Christ getan hätte.“ Darum ist für sie die Feier eine Feier für alle Freunde und Förderer, die ihr über die Jahre zur Seite gestanden haben. Aber in erster Linie soll die Feier ihrer lebenslangen Stütze, ihrem Gatten Nelu, gewidmet sein. „Nelu hat immer das Schwerste auf sich genommen und gemacht. Er hat Mut gespendet, wenn man nicht mehr weiter wusste und am Verzweifeln war.“ Man kann Hermine ansehen, wie sehr ihr Nelu fehlt, doch irgendwie spürt man überall seine Anwesenheit. 

Die ersten Kinder, die das Tageszentrum besucht haben, sind längst Erwachsene geworden. Ihre Kinder gehören nun zu den täglichen Besuchern. Dabei geht es wie früher nicht nur um Hausaufgaben, sondern auch um soziale Umgangsformen, um Hygiene, aber auch um die Förderung der eigenen Kultur, die dann zu so manchem Fest vorgestellt wird. 

Nicht einfach war der Weg. Nicht nur einmal drohte dem Projekt das Aus. So zum Beispiel, als wegen neuer Brandschutzmaßnahmen 2018 dem Verein die Nutzung des alten Schulgebäudes untersagt wurde. Doch weder Hermine und Nelu, noch ihre Mitarbeiter, Freunde und Förderer waren bereit, die Flinte ins Korn zu werfen. Man setzte sich zusammen, man überlegte und machte das, was man am besten konnte: man packte das Problem beim Schopf, mit Zuversicht in die Zukunft, und es ging weiter. 

Rückblickend angesichts der ganzen Lobesworte, die Hermine während der ihr gewidmeten Feier „ertragen“ musste, entgegnet sie in ihrer typischen bescheidenen Art: „Ich hätte vieles besser machen können. Ich hätte viel mehr bewirken können.“ Und trotzdem ist wegen Hermine und Nelu Reußdörfchen ein anderes Dorf geworden, als das, in welches sie nach der Wende zurückgekehrt waren.