Die Erwartungshaltung der sogenannten „zivilisierten Welt“ war bisher dahingehend ausgerichtet (worden), dass Mitte April die oft angekündigte Gegenoffensive der Ukraine startet. Wolodymyr Selenskyj hat sich allerdings zu einem zu geschickten (stellenweise aggressiven) Kommunikator gemausert, um die Erwartungen nicht zu dämpfen. Er geht sogar so weit, Aussagen seiner höchsten Militärs zu widersprechen – immer bemüht, die hohen Erwartungen der Ukrainer, aber auch des Abendlands, bezüglich der (von ihm selbst gebetsmühlenartig heraufbeschwörten) Gegenoffensive nicht zur Enttäuschung werden zu lassen.
Selenskyj lässt Dämpfer anklingen, indem er suggeriert, dass die öffentliche Meinung auch vorbereitet sein sollte auf ein mögliches Scheitern dieser Gegenoffensive – oder wenigstens, dass nicht alle Befreiungs-Erwartungen der Ukraine mit der allseits erwarteten Militäroperation zu erfüllen sind. Dass das (großspurige, aber für den Plebs mobilisierende) Ziel der Wiederherstellung der Grenzen von 1991 bis Ende dieses Jahres (nicht) zu erreichen sein könnte. In den jüngsten Interviews widersprach er auch seinen Kommandanten: Die Ukraine sei noch lange nicht ausreichend vorbereitet für eine erfolgreiche Gegenoffensive, weder waffentechnisch, noch hinsichtlich ihrer Munitionsreserven.
Die gut informierte „Washington Post“ spricht andrerseits von bisher etwa 120.000 ukrainischen Gefallenen. Die Zahl hat noch niemand bezweifelt. Hingegen spekuliert man aufgrund dieser Zahl, dass die Ukraine einen Großteil ihrer erfahrenen Kommandanten der unteren und mittleren Ebene – die Basis jedes Heeres – verloren haben müsste. Die Ukraine hätte also einen Mangel an felderfahrenen Kommandeuren – und zögert (auch) deswegen den Beginn der erwarteten Frühjahrsoffensive hinaus.
Hingegen gibt es nach Schätzungen der Militärexperten um die 50.000 bis 60.000 ukrainische Soldaten und höhere Chargen, die in den USA, Großbritannien, Spanien, Polen, Deutschland und in anderen Ländern ausgebildet wurden – die aber noch nicht kampferprobt sind. Mit etwa 500 Panzern (russischer und inzwischen erhaltener Produktion) und zirka 1000 diversen gepanzerten Fahrzeugen sowie dem im Ausland ausgebildeten Truppenkern ohne Feuertaufe – so die Kalkulation der Freunde der Ukraine – müsste noch in diesem Frühjahr ein Durchbruch der Fronten der Russen zu erzwingen sein.
Jene Russen, die sich auf ihre Fähigkeit zum Verlustverkraften und ihre zahlenmäßige (und immer noch auch technische) Überlegenheit sowie ihre nach wie vor vollen Kriegskassen stützen können (China und Indien machen wett, worauf die Koalition der „Guten“ verzichtet hat: Kraftstoff- und Energie-Ankäufe aus Russland).
Trotzdem bleibt das Gefälle der (dort entscheidenden) Schlagkraft der Artillerie zwischen Russen und Ukrainern zugunsten der Russen glatt positiv: Während in den vergangenen Wochen die Ukrainer um Schnitt täglich 5000 Schuss mit schweren Waffen (Haubitzen, Mörsern, Kanonen) abgaben, feuerten die Russen täglich zwischen 15.000 und 20.000 Schuss ab.
Aber diese Überlegenheit der russischen Artillerie ist im ersten Kriegsjahr laufend gesunken. Ursprünglich lag sie bei 10 : 1 (mit anfangs 50.000/60.000 russischen Schuss). Wenn in diesen Wochen die versprochene Million Schuss schwere Munition aus dem EU-Raum die Ukraine erreicht, gleicht sich das Verhältnis wahrscheinlich fast aus. Denn auch die USA, Kanada und Großbritannien liefern weitere Artilleriemunition. Laut Experten wird die Ukraine gegen Sommeranfang auf täglich mindestens 10.000 bis 15.000 Schuss ihrer Artillerie kommen – was erst eine Offensive möglich machen wird.
Interessant, dass dieser Krieg – entgegen den Prognosen zu Zeiten des Kalten Krieges – kein Krieg der Luftwaffe, sondern zunehmend zum Krieg der Artillerie und der gepanzerten Fahrzeuge und Panzer wird.