Randbemerkungen: „Zu weiß, zu männlich, zu europäisch“

Es gibt in der Türkei, auf dem Gebiet des antiken griechischen Lykien, auf einem Berggipfel, eine bis heute touristisch unerschlossene Ruinenstadt, Oinoanda, wohin man nur zu Fuß gelangen kann. Die um 1840 von den Briten entdeckte und untersuchte Ruinenstadt in einem erdbebengeschüttelten Gebiet gab ab 1884 erste Fragmente der in Stein gemeißelten größten antiken Inschrift preis. Gezeichnet ist sie von Diogenes von Oinoanda, ein anscheinend sehr reicher Grieche/Römer (möglicherweise identisch mit dem auf mehreren Inschriften verewigten römischen Bürger Flavianus Diogenes), über den wenig mehr bekannt ist, als dass er Epikuräer war und seine (nur zum Teil) „Lehren“ zu Beginn des 2. Jahrhunderts auf einem 60 bis 80 Meter langen Steinfries (etwa 120 Textspalten und mit rund 30.000 Wörtern) auf der Rückwand der Agora einmeißeln ließ. Darunter Zitate, Sentenzen und Sinnsprüche von Epikur, doch auch Abhandlungen von Diogenes „Über die Natur“, über Ethik (zu „Affekten und Handlungen“), „Über das Alter“, „über die unendliche Zahl der Welten“ (kosmoi), ein Testament und ein offener Brief an seine Freunde oder eine Trostschrift an seine Mutter, usw. Kurz: das Werk eines frühen Europäers und Weltbürgers avant la lèttre. Die Inschrift ist (noch?) nicht vollständig bekannt, weswegen auch niemand weiß, wie groß das Inschriftdenkmal wirklich war, von dem bisher rund 300 Fragmente bekannt sind. Ihr Großteil ist in einem einbruchsicheren Depotgebäude untergebracht.

Eine Hauptaussage dieser Inschrift lautet, frei übersetzt: „In jedem Teil der Welt haben alle Menschen – jeder für sich – ein anderes Vaterland: doch gemessen am Ganzen ist die Gesamtheit dieser Welt, die gesamte Erde, ein einziges Vaterland für alle. Und die Welt ist ein einziges Haus.“

Beim Lesen über Diogenes von Oinoanda und seine in Stein gemeißelten Texte erfuhr ich, dass die amerikanische Elite-Universität Yale  (Rang 10 im WUR von THE Times Higher Education, UK; Rang 11 laut ARWU Shanghai Ranking) aus dem Pflichtprogramm der Studenten der Humanwissenschaften einen jahrzehntelangen Kurs gestrichen hat: „Einführung in die Kunstgeschichte von der Renaissance bis in die Gegenwart“ von Professor Vincent Scully. Es ging um die Kontinuität des Humanismus in der angesprochenen Zeitspanne. Die Begründung fürs Streichen lautete, es sei ein Kurs, „der die Kunst der Weißen privilegiert, der Männer, der Europäer“. Unwillkürlich dachte ich, dass doch auch der in Stein verewigte, so beeindruckende wie wahre und humanistische Spruch des Diogenes von Oinoanda von einem „Weißen“, einem „Mann“ und von einem (Proto-)„Europäer“ stammt. In der Yale-Logik - bedauerlicherweise eine Mainstream-Logik! - müsste der Spruch also gestrichen werden. Oder gesprengt? Verboten?

Vielleicht so, wie die afghanischen Talibans 2001 die weltgrößten Buddha-Statuen von Bamiyan aus dem 6. Jahrhundert gesprengt haben?!?

Der Vergleich ist nicht übertrieben. Für die europäische – abendländische – Kultur hat das Streichen eines Kurses für Studenten der Humanwissenschaften zum Thema Renaissance, mit Humanismus und dem (ethisch reinen und grenzenlosen) Freiheitsgedanken, mindestens dieselbe Bedeutung wie die Sprengung vorislamischer Buddha-Statuen. Auch Diogenes von Oinoanda hat sich, als Epikureer, als „Weltbürger“ (epikureischer Sprachgebrauch: kosmopolitani) gefühlt, als er sein Werk für die Nachwelt in Stein meißeln ließ. Sein „Makel“: als Grieche-Römer war er „weiß“. „Mann“, „Europäer“. Also … „schuld“?

Wo kommen wir denn schon wieder hin, wenn der Deutsche der „neam]“ (aus slaw. ne-metz – „nicht-sprechend“), der Nichtgrieche der „Barbar“ (also: der „Stotterer“), die Nicht-Deutschen „Untermenschen“ usw. werden und wenn man generell vergisst, dass jeder Mensch an und für sich ein WERT ist, den man nicht drei zu eins austauschen kann?