Reise in die Abgründe der menschlichen Seele

Sechste Elie-Wiesel-Study-Tour auf den Spuren des Holocaust

Leuchtende Gesichter am Start einer Mission: Gruppenfoto mit dem deutschen Botschafter, S. E. Dr. Peer Gebauer, vor dessen Residenz

Gute Gedanken für den Weg: US-Botschafterin I. E. Kathleen Kavalec beschriftet ein Blatt für den Hoffnungsbaum, der die jungen Leute begleitet. Fotos: Presse-Kit der Veranstalter

Auf „mitreißende Geschichten“ hofft Eliza Chirila-Pop, Büroleiterin des American Council für internationale Bildung in Rumänien, die das Event moderierte.

Noch stehen die jungen Leute – 15 rumänische Studentinnen und Studenten zwischen 20 und 27 Jahren, ausgewählt aus hunderten Bewerbern - in festlicher Kleidung beim Empfang in der Bukarester Residenz des deutschen Botschafters. Lauschen den offiziellen Reden, ein Glas in der Hand, Häppchen werden herumgereicht. Werden gefragt, was sie bewogen hat, sich so mutig für diese Reise zu bewerben. Bewundern den glitzernden „Hoffnungsbaum“, Symbol der diesjährigen Studienfahrt, an dem zwischen leuchtenden Lämpchen schon erste weiße, mit den Gedanken der Gäste beschriebene Blätter hängen. Am Montag, den 28. August, begann für die jungen Leute mit diesem angenehmen Auftakt eine zweiwöchige Tour de Force in die Abgründe der menschlichen Seele, die eines der schlimmsten historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts möglich gemacht hat: der Holocaust.

Die Etappen führen von Rumänien über  Ungarn, Deutschland, Slowakei, Polen und zurück. Besuche, Konferenzen, Führungen, Diskussionen über das Gesehene, das fachkompetent Vermittelte, das hautnah an den Orten des Grauens nachfühlbar Gemachte – und doch so nachhaltig Unfassbare. Auf dem Programm stehen: das Elie-Wiesel-Gedenkhaus in Sighetul Marma]iei, das jüdische Viertel in Budapest mit Besuch im Holocaust Gedenkzentrum und dem Schuhe-Mahnmal an der Donau, die Konzentrationslager und Gedenkstätten von Dachau, Terezin und Auschwitz-Birkenau,  Oskar Schindler’s Emaillefabrik und das Judenviertel Kasimir in Krakau, einschließlich Synagoge und Galicia-Museum. Schindlers Namensliste hautnah zu sehen... die leeren Schuhe am Fluss... die Gleise, auf denen die Güterzüge in die Lager einfuhren... die Schlote: den Tod, den man riechen konnte, wie einst der kleine Junge aus Sighet, der das Grauen erlebte, schrieb, sich einer Mission verschrieb: nie wieder!  Elie Wiesel hat überlebt. Sechs Millionen Juden wurden ermordet. „Die Reise wird euch nicht unverändert lassen“, verspricht Dr. Peer Gebauer, deutscher Botschafter in Bukarest, den Teilnehmern. 

Die Gefahr ist nie gebannt

Und fragt sich vor dem Publikum, was viele Deutsche sich wohl immer wieder fragen: Wie war das möglich, dass unsere Landsleute diese Verbrechen begangen haben? Unvorstellbar, unbegreifbar.  Und doch, die Gefahr einer Wiederholung, vielleicht unter anderen Vorzeichen, ist nie gebannt. „Heute sehen wir den zynischen, unverantwortlichen Einsatz von Hassrede in unserer Gesellschaft“, beklagt US-Botschafterin Kathleen Ann Kavalec, „ein Diskurs, der abzielt auf als verschieden empfundene Gruppen und diese entmenschlicht, seien es Juden, Roma, LGBTQi-Individuen oder andere Minderheiten und Identitätsgruppen.“ Der israelische Botschafter, Reuven Azar, erinnert an die Definition des Menschenrechtlers Anatoly Shcharansky, der die „drei Ds“ als Erkennungszeichen für Hassrede geprägt hat: Dämonisierung – wenn Menschen einer Gruppe über einen Kamm geschoren und ihre Handlungen außer Proportion dargestellt werden. Doppelter Standard – selektive Kritik, ohne denselben Maßstab an andere anzulegen,  Delegitimisierung – wenn der Zielgruppe Rechte oder gar die Existenzberechtigung abgesprochen werden. Jetzt, wo die letzten Zeitzeugen des Holocaust aus unserer Gegenwart verschwinden, sei eine generationenübergreifende „Erinnerungstransfusion“ nötig, wie Elie Wiesel es genannt hatte,  mahnt Kavalec. 

Elie Wiesel: 1928 in Sighet als orthodoxer Jude geboren, Verfasser des erschütternden autobiografischen Romans „Nacht“ aus seiner Schreckenszeit in den Konzentrationslagern von Auschwitz und Birkenau, seit 1986 Nobelpreisträger und zeitlebens Menschenrechtskämpfer. „Ein inspirierendes moralisches Vorbild in meinem Leben“, bekennt Kavalec. Könnte es einen passenderen Namenspatron geben für die 2017 vom American Council für internationale Bildung ins Leben gerufene, von der US-Botschaft und inzwischen auch den Botschaften Deutschlands, Israels, Polens, der Niederlande sowie des rumänischen Elie-Wiesel-Instituts unterstützten Studienreise?

Aufklärung auf breiter Ebene 

Der Kampf gegen Antisemitismus und Hassverbrechen erfordert Aufklärung auf breiter Ebene, betont Kavalec und erzählt, wie ihr im Gespräch mit den Familienmitgliedern der Opfer des Massakers von Srebrenica 1995 schockierend bewusst wurde, dass „ehemalige Nachbarn und angebliche Freunde die serbischen Kräfte unterstützten“, die über 8000 bosnische Männer und Jungen ermordeten, und „wie schnell das alles passierte“! Gesetze gegen Hassverbrechen und ein Training für Gesetzeshüter seien nötig, aber auch die öffentliche Verurteilung antisemitischer und rassistischer Handlungen durch Politiker und andere Personen mit Vorbildcharakter. 

Am besten beginnt man mit der Sensibilisierung schon in der Schule: Rumänien hat dies erkannt und dank der Bemühungen der Abgeordneten Ovidiu Gan] (Demokratisches Forum der Deutschen in Rumänien) – anwesend, „immer an der Vorfront, wenn es um Holocaust-Erziehung geht“, so Botschafter Gebauer - und Silviu Vexler (Föderation der jüdischen Gemeinschaften) einen wichtigen Schritt getan: Das Thema wurde bereits in den Lehrplan der Lyzeen des laufenden Schuljahrs aufgenommen.

Begrüßt werde auch Rumäniens Plan zur Einrichtung eines Holocaust-Museums, betont Kavalec. „Wir unterstützen dieses Projekt und hoffen, dass es in der nächsten Zeit damit vorwärts geht.“  

Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft

Die Elie Wiesel Study Tour regt zur Auseinandersetzung mit einem dunklen Teil der Vergangenheit an. Doch geht es nicht nur um die Aufarbeitung der Geschichte, sondern auch um den Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zur Erkennung und Verhinderung von Hassverbrechen und Genozid heute, über Menschenrechte, Hassrede im politischen Dialog, die heutige Diskriminierung von Minderheiten in Zentral- und Osteuropa sowie moderne Erkenntnisse zu Völkermord und ihre Ausprägungen.

Am Ende der Reise wird jeder Teilnehmer ein Folgeprojekt implementieren, um weitere junge Menschen zu informieren und sensibilisieren - Vorträge, Führungen zu Stätten jüdischer Kultur, Blogs oder Datenbanken, Ausstellungen, Artikel, Filme, Podcasts oder Storytelling... je breiter die Palette der eingesetzten Medien, umso nachhaltiger die Wirkung der inzwischen 115 Alumni des Projekts. Beispiele: Im September 2017 präsentierte Alumna Ana Vl²descu in einer Info-Session die „zehn Stufen, die zum Holocaust führten“; im Oktober 2018 organisierte Oana Pintilie die Diskussion „No Hate in This Debate“ am Ende einer Reihe von Workshops für Studenten; im Oktober 2019 befasste sich Andrei-Bogdan Sterescu in einem Essay mit der Frage der Wirkung von Holocaustfilmen im Kino; im Pandemiejahr 2020 hielten drei Teilnehmer Online-Konferenzen zum Thema Frauen im Holocaust ab;  2022 organisierten zwei Alumni interaktive Workshops und eine Ausstellung zum Holocaust in Rumänien.

115 Alumni – 115 Projekte mit Breitenwirkungen – bald sind es 130, jedes Jahr mehr. 2019 bis 2021 nahmen auch einige ungarische und moldauische Studenten teil und trugen die Botschaft in ihre Länder. Elie Wiesel – der eine, der nicht verdrängen und schweigen wollte – hat eine Lawine ausgelöst. Jeder Einzelne kann dazu beitragen, sie am Rollen zu halten.