„Sachen packen, es ist Krieg“

Sabrina Natmessnig war bis zur russischen Invasion Universitätslektorin in Lemberg/Lviv

Sabrina Natmessnig, OeAD-Lektorin an der Iwan-Franko-Universität Lemberg
Fotos: privat

Das Denkmal für Taras Shewchenko, Maler und bedeutendster Lyriker der Ukraine. Er begründete die moderne ukrainische Literatur und trug wesentlich zur Entwicklung der ukrainischen Sprache bei.

Die Lemberger Nationaloper, 1900 fertiggestellt vom Architekten Zygmunt Gorgolewski, an der Lemberger Spaziermeile „Freiheitsavenue“

Die Lemberger Nationaloper, 1900 fertiggestellt vom Architekten Zygmunt Gorgolewski, an der Lemberger Spaziermeile „Freiheitsavenue“

Der „Österreichische Austauschdienst“ (OeAD) vermittelt Graduierte eines kultur- oder geisteswissenschaftlichen Studiums als Lektorinnen bzw. Lektoren an ausländische Universitäten. Eine von ihnen war bis vor Kurzem Sabrina Natmessnig: Sie hat Slawistik studiert und die Ukraine bereits mehrmals besucht, als sie im Herbst 2021 schließlich nach Lemberg ging, um neben ihrem Doktorat am Lehrstuhl für interkulturelle Kommunikation und Translation an der Iwan-Franko-Universität zu unterrichten. Davon kann sie kann nur Positives berichten – über die Arbeitsbedingungen ebenso wie über die Studierenden. ADZ-Redakteurin Veronika Zwing erzählte sie von der Stimmung vor der Invasion, ihrer Ausreise und davon, wie sich das Leben der Menschen in Lemberg durch den Krieg verändert hat.

Gab es, bevor Sie nach Lemberg gegangen sind, bereits Warnungen von offizieller Seite über das Risiko eines Krieges in der Ukraine?
Das Risiko war immer da, es herrscht ja seit 2014 Krieg im Osten. Wobei ich sagen muss, dass ich davon in der Westukraine wenig gespürt habe. Mit meinem Beruf konnte ich dort sehr gut leben, und ich war ja schon vorher in der Ukraine gewesen und wusste, was mich erwartet. Allerdings war es sehr beeindruckend, was sich in den Jahren seit meinem letzten Besuch in der Stadt alles getan hat, im positiven Sinne. Mir hat es sehr gut gefallen in Lemberg. Schade war, dass wir wegen Corona im Herbst ziemlich bald in den Online-Unterricht wechseln mussten, aber die Studierenden waren trotzdem immer sehr aktiv.

Was war der Auslöser, dass Sie zurück nach Österreich gekommen sind? Wann war das genau?

Der Krieg. Am 24. Februar.

Das heißt, dass davor keine Angst herrschte, dass Russland das Land angreifen würde? Wie war denn die Stimmung kurz vor der Invasion?

Es hat erstens keine offizielle Warnung gegeben vom Außenministerium – nicht für den Westen der Ukraine, der war ausgenommen, und somit auch Lemberg. Und ich habe mir gesagt, so lange es für dieses Gebiet keine offizielle Warnung gibt, so lange bleibe ich.

Und die Stimmung… Man hat schon gewusst, da kommt was, man hat sich ja auch unterhalten unter uns Kollegen, aber eher in die Richtung: Ja, im Osten, die Separatistengebiete... da wird er schon was machen, der Putin.

Man hat gewusst, irgendwas kommt, aber dass das dann so massiv wird und so schnell, und dass er im Grunde dann auch schon den Westen angreift – es wurde ja auch Iwano-Frankiwsk angegriffen und es war auch die Rede davon, dass der dortige Flughafen am 24. Februar mit Raketen angegriffen wurde – damit hat niemand gerechnet. Die Menschen waren schockiert, einschließlich mir.

Man hat Putin als gefährlich eingeschätzt, aber nicht gedacht, dass er so weit gehen würde. Wir haben uns in der Westukraine wirklich alle sehr lange sehr wohl und sicher gefühlt, man hatte das Gefühl: Bei uns im Westen, da wird nichts sein. Und dann auf einmal – alles anders.

Wie wurde die Situation in der Donbass-Region eingeschätzt? War das ein wichtiges Thema?

Ja, schon, was ich von meinen Bekannten her wahrgenommen habe, hat man zwar gesagt, auch der Donbass gehört zur Ukraine, wie auch die Krim zur Ukraine gehört, aber es war schon eher jedem klar, dass die Situation schwierig zu lösen sein wird, und dass Putin nicht von den Gebieten ablassen wird. Und das hat sich dann in den letzten zwei Monaten so zugespitzt, dass die Stimmung dazu tendiert hat: die Separatistengebiete, die will er jetzt wirklich haben.

Gab es auch konkrete Vorbereitungen für den Ernstfall von Österreichischer Seite?

Ja, wir hatten das ja schon ein bisschen geplant, mit dem Leiter des Kooperationsbüros in Lemberg, der auch zuständig für die Evakuierung von uns aus Lemberg ist. Es war klar, dass wir entweder mit dem Auto, mit einem Fahrer, oder mit dem Zug ausreisen würden.

Auch der OeAD hat sich vorher bei uns gemeldet, wir sollen uns bitte mit der Botschaft kurzschließen und uns unbedingt registrieren lassen, damit man uns im Notfall benachrichtigen kann. Das war gut so, ich habe das auch gemacht. Auch nach der Ausreise hat sich jemand vom OeAD gemeldet und sich erkundigt, ob es mir gut geht, ob ich gut angekommen bin.

Wie verlief dann die Ausreise? Gab es Schwierigkeiten dabei?

Am 24. bin ich in der Früh aufgewacht, weil mein Handy vibriert hat, und da hab ich schon gemerkt, es ist etwas. Dann ist auch schon die SMS gekommen – Sachen zusammenpacken, es ist Krieg. Auch vom Außenministerium ist dann eine Warnung gekommen, dass man das Land verlassen soll, und dann war auch ziemlich schnell Fliegeralarm. Wir sind nicht in den Luftschutzkeller, weil wir nicht wussten, was wir machen sollen – ich hab geschaut, was die Nachbarn tun, und nachdem die alle in ihren Wohnungen geblieben sind, dachte ich, okay, dann bleib ich auch.

Wir haben also gepackt und gewartet bis der Fliegeralarm aus ist, und dann hat ein Fahrer, den der Leiter des Kooperationsbüros in Lemberg organisiert hatte, uns zur polnischen Grenze gebracht, das sind so zwei Stunden.

Wie war die Situation an der Grenze?

Mit dem Auto war schon ein langer Stau, das hätte ewig gedauert. Wir sind aber extra zu dem einzigen Übergang gefahren, wo man auch zu Fuß passieren konnte – in Schehyni, auf der anderen Seite ist Medyka und dann gleich Przemysl. Der Fahrer ist zurück nach Lemberg, und wir haben so drei, vier Stunden gewartet, sie haben zuerst Familien mit Kindern durchgelassen, und alle halbe Stunde ein Grüppchen – damit es sich bei der Passkontrolle nicht so staut. Auf der polnischen Seite ist alles schnell gegangen, weil wir ja EU-Bürge-rinnen sind. Dann sind wir mit dem Bus in die Innenstadt von Przemysl, mit dem Zug nach Krakau, und dann mit dem Nachtzug nach Wien, wo wir um halb acht am Morgen angekommen sind.

Es war lang und anstrengend, aber die Menschen waren großteils sehr ruhig, es gab keinen Streit oder so, alle waren sehr gefasst. Es war auch an dem Tag, denke ich, noch relativ angenehm, verglichen mit dem, was jetzt oder ein paar Tage danach los war. Einen Tag nach unserer Ausreise war der Stau an dieser Grenze schon zehn Kilometer lang.

Haben Sie noch Kontakt zu Menschen, die in Lemberg geblieben sind?

Ja, klar – mit dem Lehrstuhl und den Studierenden natürlich, ich arbeite sozusagen von Österreich aus weiter. Es ist schwer, vor allem in der ersten Woche saßen die Leute immer wieder im Luftschutzkeller, weil so oft Fliegeralarm war. In den letzten Tagen ist es aber offenbar weniger oft vorgekommen. Die Lage in Lemberg selbst, auch was die Versorgung angeht, ist meines Wissens stabil, vor allem im Vergleich mit dem, was in Charkiw oder Kiew oder Cherson abgeht, das ist wirklich nur noch Horror.

Die Menschen bereiten sich vor, extrem viele nehmen Binnenflüchtlinge aus anderen Regionen bei sich auf – es ist sehr viel los in Lemberg, weil Menschen aus vielen Teilen des Landes dorthin strömen. Und es engagiert sich wirklich jeder so viel nur geht.

Wenn Sie sagen, Sie arbeiten von Österreich aus – gibt es denn noch Unterricht?

Es ist zumindest geplant – im Moment sind noch Zwangsferien, weil das Kriegsrecht ausgesprochen wurde. Aber die Studierenden übersetzen irrsinnig viele Texte ins Deutsche, damit sozusagen jeder erfährt, was in der Ukraine passiert, und ich bin diejenige, die einige dieser Texte korrigiert und redigiert.
Niemand ist untätig, es ist eher so, dass sich alle in die Arbeit stürzen. Theoretisch sollte der Unterricht diese Woche wieder losgehen, aber so wirklich weiß das niemand (Anm. d. Red.: der Unterricht wurde am 14. März wieder aufgenommen).