Sein und Schein

Wir sind auf unseren „guten Ruf“ bedacht, denn nur wer sich als ehrenwerter Mensch empfiehlt, wird vom sozialen Umfeld akzeptiert und auch ehrenvoll behandelt. Deshalb bemühen wir uns, vor unseren Mitmenschen „etwas zu sein“. Starke Persönlichkeiten suchen durch herausragende Taten den Zeitgenossen zu imponieren. Die Triebfeder ihres Handelns ist der Ehrgeiz. Steigen sie aber auf der Erfolgsleiter weit über die Köpfe der anderen empor, so rüttelt der Neid vieler Nebenbuhler an dieser Leiter und oft folgt auf den steilen Aufstieg der tiefe Sturz. Die Geschichte ist reich an solchen Beispielen. Ich will zur Illustration nur eines herausgreifen.

Der oströmische Kaiser Justinian I.(527-565) hatte einen tüchtigen Feldherrn namens Belisar. Dieser, von unbekannter Herkunft, diente zunächst in der Leibwache des Kaisers. Im Krieg vollbrachte er kühne Taten, die seinen Mut und seine Umsicht offenbarten. Der Kaiser erkannte die Fähigkeiten dieses ehrgeizigen, ihm sehr ergebenen Offiziers und ernannte ihn zum Feldherrn. Er hatte es nicht zu bereuen. Belisar besiegte die Perser, rettete 532 bei einem Aufstand dem Kaiser Thron und Leben, eroberte von den Ostgoten Neapel, Rom und Ravenna, führte den Ostgotenkönig Vitiges als Gefangenen nach Konstantinopel und brachte auch den königlichen Schatz als Beute mit. Der kaiserliche Dank des misstrauischen Justinian bestand in der Absetzung des großen Feldherrn. Als aber die Ostgoten unter Totilas Führung erneut Italien besetzten, wusste der Kaiser keinen besseren Rat, als Belisar wieder zum Feldherrn zu ernennen. Dieser eroberte abermals Rom, rettete im Jahr 559 das Reich vor dem Angriff der Hunnen, die schon die Hauptstadt bedrohten. Doch der Neid der unfähigen Höflinge unterminierte abermals die Stellung Belisars. Er wurde fälschlich einer Verschwörung gegen den Kaiser bezichtigt. So verlor er alle seine Würden und sogar die Freiheit. Tief verbittert starb er kurz darauf. Hier trifft das Sprichwort voll und ganz zu: Undank ist der Welt Lohn! Zahlt es sich aus, mehr sein zu wollen als die anderen?

Es gibt aber auch viele Dutzendmenschen, die mehr sein wollen, ohne aber die Fähigkeit dazu zu besitzen. Zu dieser Kategorie gehörten die Pharisäer. Der ansonsten so milde Christus gebraucht harte Worte gegen sie: „Sie schnüren schwere Lasten zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern, wollen selber aber keinen Finger rühren, um die Lasten zu tragen. Alles, was sie tun, tun sie nur, damit die Menschen es sehen.“ 

Dieser Geist ist keinesfalls mit den jüdischen Pharisäern ausgestorben. Er ist ein geistiger Virus, der auch viele Christen befällt. Jeder, der für seine Person mehr dem Schein als dem Sein huldigt, ist von diesem Virus befallen. Das zeigt sich im Benehmen solcher Menschen. Ein Pfarrer stattete während der Fastenzeit einen Hausbesuch ab. Aus dem Fenster drangen die Töne eines flotten Schlagers. Er läutete die Hausglocke. Jemand blickte zum Fenster heraus, sah den Pfarrer und rief ins Zimmer hinein: „Der Pfarrer steht unten! Leg’ doch schnell die fromme Platte auf!“ Als nun der Pfarrer ins Besuchszimmer trat, tönte ihm das Lied entgegen: „Oh Haupt voll Blut und Wunden...“

So ähnlich machen es viele Leute. Um bei anderen Eindruck zu schinden, legen sie jene Platte auf, die gut ankommt: beim Pfarrer die fromme Platte, beim Vorgesetzten die Schmeichelplatte, bei der reichen Erbtante die fürsorglich klingende Liebesplatte. 

Man mag bei Menschen damit gut an-kommen.Gott aber lässt sich durch keine fromme Platte täuschen. Bei ihm gilt allein das Sein, nicht der Schein. Wer das nicht beherzigt, wird einmal eine böse Überraschung erleben. 

Die Lehre, die wir zu ziehen haben, ist denkbar einfach: Wolle nicht für mehr scheinen als du wirklich bist! Sei kein Plattenspieler, der jede Melodie abspielt, die gut ankommt. Es ist immer besser: Mehr sein, als scheinen!