Solche und solche

Europas selektive Solidarität gegenüber Flüchtlingen

Ein Demonstation für Solidarität mit Flüchtlingen in Wien 2015. Die derzeitige Entwicklung gibt den Demonstrierenden Recht: Hilfsbereitschaft ist keine Frage von „Platz“, sondern von Willen.
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Eine Flüchtlingsfamilie im Herbst 2021 am polnischen Grenzzaun.
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Über eine Million Menschen sind in der letzten Woche vor der russischen Invasion aus der Ukraine geflohen. Ihnen wird derzeit große Solidarität entgegengebracht: An den Grenzen werden sie von hilfsbereiten Menschen aus Rumänien, Polen oder Ungarn mit Tee und Keksen erwartet. Es ist erfreulich und berührend zu sehen, wie auch in den nicht direkt benachbarten Ländern viele Menschen helfen wollen – etwa am Berliner Hauptbahnhof, wo unzählige Bewohner und Bewohnerinnen sich mit Decken, Lebensmitteln oder sogar dem Angebot, jemanden bei sich zuhause aufzunehmen, eingefunden haben.

Auch auf offizieller Seite wird schnell und hilfsbereit reagiert – die EU-Staaten haben sich geeinigt, dass alle aus der Ukraine Geflüchteten ohne langwierigen Asylverfahren ein einjähriges Aufenthaltsrecht, Sozialhilfe und eine Arbeitserlaubnis erhalten. Die Politiker und Politikerinnen zahlreicher Länder erklärten sich zur Aufnahme bereit, Notunterkünfte wurden aufgebaut, Ressourcen bereitgestellt. „Wir sind darauf vorbereitet, uns um sie zu kümmern, und wir werden die Herausforderung schnell und effizient bewältigen“, sagte etwa Viktor Orbán, und die Stimmung in Polen, wo mit über einer halben Million mit Abstand am meisten Flüchtlinge angekommen sind, beschreibt die deutsche Tagesschau mit den Worten „Polen öffnet Arme und Geldbeutel“. Auch Polen also, für dessen Präsident die Aufnahme von Flüchtlingen eigentlich „einer gesellschaftlichen Katastrophe gleichkommt“? (Kaczinsky 2017) Und Viktor „Wir müssen die Grenzen weiter verteidigen“ Orbán?

Europa kann aber auch anders

„In Polens Grenzgebiet zu Belarus hat die Polizei einen weiteren Toten gefunden“ – so lautete eine Nachricht vom 21. Februar. Bei dem Toten handelt es sich ebenfalls um einen Flüchtling, aus dem Jemen, wo seit 2015 Krieg herrscht und laut UN-Generalsekretär António Guterres „die schlimmste humanitäre Krise der Welt“ wütet. Landminen, Kindersoldaten, Versorgungsblockaden werden in diesem Krieg eingesetzt. Etwa 80 Prozent der Bevölkerung sind von humanitärer Hilfe abhängig, die UN-Geberkonferenz hat im vergangenen März weniger als die Hälfte des Geldes zugesagt, das für das Überleben dieser Menschen notwendig wäre.

Es ist schwer zu argumentieren, dass die Fluchtgründe dieses nun toten jungen Mannes weniger zwingend waren als die der Menschen aus der Ukraine. Trotzdem gab es für ihn weder Kekse noch Tee, nicht einmal das ihm von Rechts wegen zustehende Asylverfahren. Neben ihm sind, offiziell, weitere dreizehn Flüchtlinge in den Wäldern und Sümpfen Polens erfroren, verhungert oder an Entkräftung gestorben.

Wer nicht – rechtswidrig – zurück nach Belarus getrieben wird, wird offenbar – ebenfalls rechtswidrig – in Lager gesperrt, in denen laut den spärlichen Berichten erbärmliche Zustände herrschen. Genaues weiß man nicht, weil Polen dort ein Sperrgebiet eingerichtet hat: Eine rechtsfreie Zone, zu der kaum jemand Zutritt hat. Mit dem Finger auf Polen zu zeigen wird der Situation aber nicht gerecht, denn die gesamte EU toleriert diese Sperrzone ebenso wie den Bau eines Grenzzaunes, und gefährlich ist es für Flüchtlinge in Europa fast überall – im November etwa wurde die Leiche eines wohl erfrorenen jungen Mannes in Brandenburg gefunden.

Mitgefühl nur für „Zivilisierte“ ?

Ukrainischen Flüchtlingen bleibt eine solch gefährliche Flucht hoffentlich auch weiter erspart, zumindest ermöglichen derzeit einige Länder nicht nur die Einreise, sondern auch eine sichere Fluchtroute, etwa mit kostenlosen Bahntickets. So erfreulich dies ist, wirft es doch die Frage auf, wieso dieselben Länder Flüchtlinge aus anderen Kriegsgebieten dem Tod durch Kälte oder Ertrinken aussetzen?

Eine erstaunlich deutliche Antwort gibt darauf etwa David Sakvarelidze, früher georgischer, jetzt ukrainischer (etwas obskurer) Politiker, der sich gegenüber der BBC nicht schämte zu erklären: „Es ist sehr emotional für mich, weil ich sehe, dass europäische Menschen mit blonden Haaren und blauen Augen jeden Tag getötet werden durch Putins Raketen und Helikopter“.

Während bei ihm Mitgefühl also von Pigmenten abhängt, sind für Daniel Hannan im britischen „Telegraph“ eher ökosoziale und geografische Gegebenheiten entscheidend: Für ihn ist „schockierend, dass Krieg nicht länger etwas (ist), das verarmte und weit entfernte Bevölkerungen heimsucht.“ Ähnlich drückt CBS News-Korrespondent Charlie D’Agata sein Entsetzen aus: Kiew sei keinesfalls, „bei allem Respekt, ein Ort wie Irak oder Afghanistan“, sondern „eine relativ zivilisierte, relativ europäische Stadt“.

Neben einem fragwürdigen Sinn für Komplimente („relativ zivilisiert“) beweist D’Agata damit auch eine bodenlose Ignoranz gegenüber historischen Gegebenheiten: Nicht nur bekriegen sich die „zivilisierten“ Europäer seit jeher gegenseitig, sie haben auch über Jahrhunderte alle Kontinente der Welt mit Gewalt überzogen, und bis vor Kurzem hat „der Westen“ dafür noch nicht einmal Massenvernichtungswaffen oder humanitäre Gründe vorgeschoben.

„Ukrainer zuerst“

Ob Menschen Solidarität und Hilfsbereitschaft erfahren oder ihnen Schutz und Sicherheit verwehrt wird, hängt also weniger von ihrer tatsächlichen Schutzbedürftigkeit ab, sondern von Kriterien, die sie erfüllen oder eben nicht – wie die Haarfarbe; und von Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden, wie der Grad der „Zivilisiertheit“. Dies gilt auch dann, wenn Menschen zum selben Zeitpunkt vor demselben Krieg fliehen, wie sich in den letzten Tagen an den ukrainischen Grenzen gezeigt hat: Während sich Hunderttausende Menschen unbehelligt in Sicherheit bringen konnten, wurden andere teils unter Androhung von Waffengewalt davon abgehalten.

Zahlreiche Studierende aus afrikanischen Staaten berichteten auf sozialen Netzwerken und gegenüber Medien, dass sie teils gar nicht erst in die Busse und Züge für flüchtende Menschen gelassen wurden – „Ukrainer zuerst“, habe es geheißen. Ruqqaya aus Nigeria, die in Charkiw Medizin studierte, erreichte nach elfstündigem Fußmarsch die polnische Grenze, durfte aber nicht passieren – auch hier: „Ukrainer zuerst“. Sie habe Busladungen voller Menschen gesehen, die über die Grenze gelassen wurden, nur sie und eine Handvoll anderer Afrikanerinnen und Afrikaner mussten stundenlang warten. Ein nigerianischer Student berichtet auf seinem Twitter-Account @nzekiev, dass er und andere afrikanische Studierende bei bitterer Kälte zwei Nächte an der Grenze im Freien verbringen mussten, manche reisten verzweifelt zurück nach Lemberg. Er stellte ein Video online, auf dem sich Uniformierte mit erhobenen Waffen einer Gruppe in den Weg stellt, die „We are students“ rufen. Die Studentin Asya aus Somalia machte ähnliche Erfahrungen – und als sie endlich nach Polen gelangte, wurde ihr gesagt, dass die Unterkunft im Hotel nur für Ukrainer und Ukrainerinnen sei. Sie schreibt aber auch, dass sie später von Menschen in Warschau große Hilfsbereitschaft erfahren habe. Inzwischen äußerte sich auch UN-Chef António Guterres „schockiert“ über die Berichte.

Menschenrechte für alle Menschen?

Oben zitierter Hannan schrieb in seinem Artikel weiter, dass die Ukrainer und Ukrainerinnen Menschen sind, die „Netflix schauen und Instagram Accounts haben“, sie „scheinen wie wir. Das macht es so schockierend“. Diese Aussage wie auch die seiner Kollegen fassen überdeutlich in Worte, wie sehr Europa, das sich die Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben und die Genfer Flüchtlingskonvention verfasst hat, mit zweierlei Maß misst, wenn es darum geht, wem diese Rechte zugestanden werden. Empathie zu empfinden oder nicht steht jedem Menschen zu, und es ist auch Selbstschutz, sich nicht immer in das Leid anderer einzufühlen. Es steht aber niemandem zu, den Wert des Lebens eines Menschen nach dessen Augenfarbe, Herkunft oder Streaming-Abo zu bemessen und danach zu entscheiden, wer gerettet wird und wer ausgeliefert. Der unterschiedliche Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine oder anderen Ländern zeigt aber ein weiteres Mal, dass Europa genau dies macht.

Andererseits gibt es immer Menschen, die einfach helfen, wenn es nötig ist. Auch 2015 gab es eine große Welle der Solidarität, auch damals brachten Menschen Wasser und Essen, Decken und Trost an die Bahnhöfe, als dort erschöpfte Menschen strandeten, die alles verloren hatten. Weniger sichtbar sind diejenigen, die bis heute Nächstenliebe praktizieren und etwa  syrischen Kindern bei den Hausaufgaben helfen.

Es bleibt den Menschen aus der Ukraine zu wünschen, dass die Solidarität ihnen gegenüber anhält – denn leider zeigen die Erfahrungen anderer Kriegsflüchtlinge, etwa aus dem ehemaligen Jugoslawien, dass auch blondes Haar und europäische Herkunft nicht vor Feindseligkeit und Diskriminierung schützen. Wer die eigene Gleichgültigkeit oder Boshaftigkeit anderen gegenüber legitimieren will, findet immer einen Grund.


„Die vertragschließenden Staaten werden die Bestimmungen dieses Abkommens auf Flüchtlinge ohne unter-schiedliche Behandlung aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslandes anwenden“
Artikel 3 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juni 1951, genannt „Genfer Flüchtlingskonvention“