Steinerne Gottheiten auf den Dächern von Wien

Eine Fotoperformance der besonderen Art

Der schöne Po des Eros Fotos: privat

Boreas auf dem Burgtheater mit Handschrift von de Grancy

Besucherin der Ausstellung

Das Apollonia-Hirscher-Haus in der Kronstädter Purzengasse erstrahlt im vorweihnachtlichen Glitzer vieler Lichterketten und versucht, dem alten Rathaus den Rang abzulaufen, was dem neu eingerichteten Kulturzentrum der Innenstadt nicht ganz gelingen will. Nur wenige Passenten betreten die Veranstaltungsräume, vor allem am Sonntagabend. Da zieht es einen eher zu den Buden des Weihnachtsmarktes, wo es Glühwein und Deftiges zum Essen dazu gibt. Im Apollonia-Hirscher-Haus hingegen gibt es am 3. Advent eine Vernissage. Eine Fotoausstellung der Künstlerin Christine de Grancy wird geboten unter dem Titel „Wiens geliehene Götter. Versteinerte Zeugen“. Kuratorin der Ausstellung ist Mercedes Echerer. Vermittelt wurde die Ausstellung durch das Österreichische Kulturforum in Bukarest, vertreten von Andrei Popov als stellvertretender Direktor, der die Ausstellung auch eindrucksvoll vorstellte.

Allein schon die Aufhängung der Bilder reizt den Zuschauer: Ohne Rahmen hängen jeweils vier Fotografien wie Kalenderblätter beidseitig an Klammern und dünnen Schnüren von einem Deckenbalken in einer Reihe herab, sodass man nicht nur vor den Bildern steht, sondern an sie herantritt, sie berührt, hochhebt, um das nächste und das nächste zu betrachten und so mit jedem einzenen Bild einen visuellen Dialog einzugehen. Die meisten Bilder sind mit handschriftlichen Kommentaren der Künstlerin versehen. Zum Teil trauen sich die wenigen Besucher auch nicht, die Bilder anzufassen und zu blättern, bevor sie es nicht an anderen beobachten. Allmählich gelingt es einigen jedoch, aus einer einzigartigen Perspektive mit der Geschichte Wiens ins individuelle Gespräch zu kommen.

Die Fotografien stellen ausnahmslos Schwarz-Weiß-Aufnahmen dar und repräsentieren Ansichten aus der Vogelperspektive, oder besser gesagt aus der Perspektive einer über die Dächer von Wien streunenden Katze. Denn Christine de Grancy tut genau das: Sie besteigt die Dächer der Wiener Hofburg, der Museen und anderer geschichtsträchtiger Gebäude und fotografiert die unglaubliche Vielzahl von Göttinnen und Göttern, die diese Gebäude ebenso beschützen wie verzieren und die man als bodenständiger Stadtbewohner oder Tourist wohl kaum wahrzunehmen imstande ist. Denn de Grancy hat einen besonderen Blick für das Ungewöhnliche, das Verborgene, das Skurrile und Zweideutige. Sie hält in ihren Bildern den Augenblick fest und gleichzeitig fängt sie Bewegung ein wie etwa in dem Bild, das Pheme, die Göttin des Gerüchts, in der Luft schwebend zeigt auf ihrem Weg von der Hofburg in die Werkstätte der Restaurateure. Die Künstlerin habe für die Aufnahme zehn Stunden benötigt, bis Bewegung, Licht und Position für die Gesamtkomposition vollkommen passend gewesen seien, erzählt Andrei Popov und zeigt auch, wie die Künstlerin wohl auf der Schiefe des Daches gestanden haben muss.

Jede einzelne der Fotografien gestaltet sich einem als regelrechte Performance: Licht und Schatten, nackte oder gewandete starre, steinerne Körper auf den Dächern und bekleidete, lebende Körper unten auf den Gassen des Burgrings, einzeln oder
in Paaren, interagieren auf eigentümliche Weise miteinander, schaffen Kontraste und Harmonien und verwandeln die Bilder in ein magisches Fototheater, das die Besucherinnen und Besucher sofort in seinen Bann zieht. Narrative zu Wiens (Macht)Geschichte(n) entfalten sich durch die Sichtbarmachung des Unsichtbaren wie durch die auffällige Nebeneinanderstellung von Geschichtlichkeit, Zeitgenossenschaft und Wiener Alltag. Die Ausstellung ruft mehr als bloße Reaktionen hervor, denn durch die Fähigkeit, Stimmungen und Geschichten in einem einzigen Bild einzufangen, wird der Zuschauer auf ein kolossales Wien von den Dächern aus eingestimmt und von den jeweiligen Geschichten berührt, sodass de Grancys Fotografiekunst im Beobachter regelrecht Wiens Echo erklingen lässt. Resonanz heißt es bei Hartmut Rosa, und das ist es, was Christine de Grancy durch ihre Kunst erreicht, und zwar ein tieferes Verständnis und eine intensive Verbundenheit zwischen Mensch, Natur, Stadt und Geschichte, wodurch der menschlichen Existenz zusätzliche Bedeutung verliehen wird. Ergänzt wird die Ausstellung, die in Kronstadt bis zum 7. Januar 2024 zu sehen ist, durch zwei Bildbände der Künstlerin sowie eine Videoeinspielung, in der sowohl die Kuratorin Echerer als auch Christine de Grancy zu sehen sind: zwei bemerkenswerte Künstlerinnen unserer Zeit. Die Vernissage hätte ein weit größeres Publikum und vor allem die Aufmerksamkeit der Presse verdient. Letztere jedoch glänzte durch ihre Abwesenheit. Schade!